Ich ernähre mich streng gesund und lege dabei Wert auf hochwertiges Essen und guten Wein. Das ist mir sehr wichtig. Ich interessiere mich auch stark für die neuesten Diät-Trends.
Darum sitze ich am Wochenende oft in Kölner Cafés und schnappe den zahlreich anwesenden Frauen ihre Lieblings-Lektüre vor der Nase weg: Bunte, Gala und Bild der Frau. Diese hochwertigen Printerzeugnisse ackere ich strukturiert und hochkonzentriert durch. Besonders all die fundierten Berichte über Ernährung, tolle neue Diäten und welche Promi-Schlampe wieder wie viel zugenommen hat. Dabei blicke ich auf viele bunte Bilder, die erfolgreiche, gutaussehende, stark aufgespritzte A-, B- und Z-Promis mit weißen Zähnen zeigen, genieße dabei das ein oder andere Stück Kuchen und ziehe mir den Hass der anwesenden Frauen zu. Weil ich ihnen allen ihre Lieblingslektüre vorenthalte. Eine klare Win-Loose-Situation. Großartig.
Mein neugewonnenes Wissen setzte ich dann situativ und gezielt ein. Und reichere es noch mit eigenen Erfahrungen an.
Vor einigen Wochen saß ich an einem entspannten, sonnig-warmen Sonntagabend draußen vor einem Weinlokal in der Kölner Südstadt. Bald würde ich dieses Viertel verlassen und in den Kölner Norden ziehen. Also wollte ich den Abend zelebrieren. Ich las ein gutes Buch und genoss dazu eine halbtrockene, sehr den Gaumen schmeichelnde Flüssig-Traube aus der Moselregion.
Leider änderte sich die schöne Stimmung Moment schlagartig in das genaue Gegenteil. Eine junge Frau drang ungefragt in mein heimeliges Reich ein und setzte sich an den Nebentisch. Sie bestellte sich einen Weißwein und fing an, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Und dabei hektisch ihr Handy mit Textnachrichten zu füttern. Ich vermutete, dass sie bei einer Verabredung versetzt worden war. Dazu passten ihre grässlichen Klamotten, allen voran die blau-grün gemusterte Gardine, welche sich als Sommerkleid tarnte. Sehr schön auch die aufgeklebten, nach Spinnenbeinen aussehenden Wimpernverlängerungen.
Ästhetik ist mir auch sehr wichtig. Deshalb überlegte ich fieberhaft, wie ich die Tussi schnellstmöglich von diesem schönen Ort vergraulen könnte.
Ich könnte in Hörweite des Kellners und zu ihr gewandt sagen:
„Ich verbitte mir ihre Beurteilung dieses Lokals als Drecksschuppen mit schweren Hygieneproblemen!“
Oder die dunkles Parkhaus-Tour? Einfach neben sie setzen, sie mit aufgerissenen, wahnsinningen Augen anstarren und sagen:
„Du willst es doch auch! Ich kann deinen Angstschweiß riechen!“
Nein, das ist zu flach. Außerdem gibt das dann wieder böse E-Mails von pikierten Leserinnen.
Vielleicht kann ich sie einfach in die Flucht labern? Ein Versuch ist es wert. Aber etwas sprachliche Ästhetik muss schon sein. Ich werde die Fachmann für Irgendwas gegen nervige Hohltonne-Nummer anwenden.
Ich spreche sie an. Genauer gesagt dränge ich ihr ein Gespräch auf. Ein Gespräch von Fachmann zu Tussi.
Ich: „Tun sie sich das nicht an, werte Dame. Dieser Wein ist nicht gut für Sie. Das Leben ist deutlich zu kurz, um schlechte Getränke zu sich zu nehmen.“
Ich lächele sie an. Sie stutzt und blickt mich verwirrt an. Das war sie vorher zwar bestimmt auch schon, aber jetzt noch mehr.
Dann schaltet sie um. Sie blickt mich arrogant aus ihren wimpernumzäunten Augen an.
In spöttischem Tonfall sagt sie:
„Aha? Und woher wollen Sie das wissen?“
Oho, Widerstand. Widerstand ist dazu da, um gebrochen zu werden. Natürlich rein sprachlich-ästhetisch.
Ich: „Entschuldigen Sie die offensive Ansprache, ohne mich zuvor vorgestellt zu haben. Meine Name ist Weinstein, Doktor August Weinstein. Ich forsche zum Thema Diäten und den Zusammenhang von Weinkonsum und Kalorienzufuhr. Vielleicht haben sie meine Kolumnen in diesen schönen Zeitschriften ja schon mal gelesen?“
Ich mache eine ausladende Bewegung über die versammelte Regenbogenpresse. Diese ist gut sichtbar auf dem Tisch neben der Theke am Eingang des Lokals platziert.
Sie blickt kurz auf den gedruckten Papiermüll und denkt sichtbar nach. Ihre Stirn liegt kurz in Falten:
„Nein, ich glaube nicht.“
Ich setze mich kurzerhand neben sie. Sie weicht etwas zurück. Es funktioniert!
Ich: „Sehen Sie, Weine, die aus Trauben gewonnen werden, die an einem Nordhang angebaut wurden haben fast keine Kalorien und sind geschmacklich oft exzellent. Dagegen sind Süd- und Südwesttrauben stark zuckerhaltig und haben überdurchschnittlich viele Kalorien. Die machen in Windeseile jede Modelfigur kaputt. Das dürfen sie sich nicht antun.“
Ich betrachte ausführlich und unter streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten ihre interessanten Körpermerkmale.
Sie (verwirrt): „Aha?“
Sie macht eine kurze Denkpause und teilt dann das Ergebnis mit:
„Danke!“
Sie setzt das Weinglas ab und schiebt es ein Stückchen weiter weg als nötig.
Sie lächelt jetzt, wenn auch etwas unsicher. Ich merke, ich muss mich noch deutlich steigern.
Ich nehme ihr Glas Wein und halte es hoch, so dass das helle Licht eines Lampions durchscheint.
Ich: „Sehen sie das? SEHEN SIE DAS? Es ist schrecklich! Die Pigmente sinken schnell zu Boden. Viel zu viel Zucker! Der setzt sich sofort fest. Schlimmer als Fett. Und dieser Zucker kann nur aufwendig operativ von den Hüften entfernt werden. Wie viele attraktive Menschen machen ihr Attraktivität und ihren Beauty-Factor damit zunichte?“
Ich schluchze leise und drücke die Tränen weg. Sie schaut erst mich erstaunt an und dann sehr angestrengt in den Wein. Auf der Suche nach Pigmenten. Wein-Pigmenten.
Die Leute an den Nachbartischen schauen herüber. Ein Pärchen beginnt zu tuscheln. Ein älterer Typ holt sein Handy raus. Wahrscheinlich will er meine Ausführungen bei Wikipedia überprüfen. Ich muß mich beeilen.
Tussi: „Das können sie erkennen? Das ist mir nie aufgefallen.“
Kein Wunder.
Ich: „Nennen sie mich August. Achten sie auf die wirklich wichtigen Details! Schauen Sie!“
Ich starre in das nur zehn Zentimeter von meiner Nase entfernte Weinglass.
Ich: „Gleiten die Pigmente locker-flockig durch das Glas, steigen spielerisch mal rauf und mal runter, handelt es sich um eine hochwertige Traube. Solchen Wein können sie nicht nur trinken, sondern vollauf genießen. Das ist hier aber absolut nicht der Fall. Sehen sie nur!“
Ich nehme jetzt mein Glas Wein und halte es zum Vergleich ebenfalls gegen das Licht. Sie glotzt nacheinander in beide Weingläser und vergleicht beide Weine. Zumindest glaubt sie das.
Sie: „Ja, tatsächlich. Das ist mir nie aufgefallen.“
Ihr Handy klingelt. Der Klingelton ist irgendein Gangsta-Rap-Dreck. Wer stört meine Theatervorstellung?
Sie: „Hallo… Jasmin? In zehn Minuten? Okay, aber lass uns woanders hin gehen. Der Wein hier ist der letzte Dreck.“
Sie nickt mir zu. Ich nicke ihr zu und flüstere ihr den Namen eines schäbigen Weinlokals irgendwo in Kalk zu. Sie wiederholt den Namen am Telefon und vereinbart ein Treffen mit ihrer Freundin dort in einer Viertelstunde. Blitzschnell rufe ich den Kellner zum Tisch und ordere ein Taxi für die Dame.
Tussi: „Das war sehr interessant. Ich werde meinen Mädels den Tipp mit den Pigmenten mitteilen. Ich wünsche noch einen netten Abend. Vielleicht sieht man sich mal wieder?“
Sie strahlt.
Ich: „Bestimmt. Schau mal in meine Kolumnen. In Vino Veritas. Schönen Abend.“
Sie steht auf, wirft dem Ober ein paar Euro auf die Theke, sagt irgendwas Unfreundliches zu ihm und rauscht ab. Der Ober ist perplex und sieht sie davon staksen. Auf der Suche nach Verständnis wandert sein Blick zu mir. Ich zucke mit den Schultern und sage nur:
„Tussis.“
Weg ist sie. Das war ja einfach. Und gar nicht mal unlustig. Ihr Glas ist noch zu einem guten Drittel gefüllt. Die Neugierde des Weinexperten zwingt mich zu einer Geschmacksprobe des Tussi-Tropfens.
Und siehe da: Ihr Wein schmeckt deutlich besser als der Meinige. Lecker!
Ich trinke das Glas aus und behalte den letzten Schluck einen Moment länger im Mundraum. Ich merke sofort: die Trauben dieses Weines sind an einem Hang gewachsen. An einem von reichlich Sonne gesegnetem Hang. Also scheidet Nordhang schon mal aus.
Seit diesem Abend beobachte ich immer wieder Gruppen von Frauen, die ihre Weingläser hochhalten und angestrengt nach diesen ominösen Pigmenten im Wein suchen.
Es ist schön, etwas Bleibendes geschaffen zu haben. Bacchus wäre stolz auf mich.
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