Es ist Liebe. Aber es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Als ich 2008 nach Köln kam, entdeckte ich bald im Kölner Norden ein Café, das in jeder Hinsicht überzeugte. Klein, gemütlich, der nach wie vor beste Espresso und dazu noch preislich attraktiv. Alles was weiter nördlich lag,  kam erst nach und nach in mein Bewusstsein. Die Flora und den Skulpturenpark erkundete ich gar erst in meinem fünften Jahr in Köln. Aber es ist ja nie zu spät für Neuentdeckungen.

Zu lange habe ich in Marienburg gewohnt. Dort wo die Villen zahlreich, die Mieten hoch und angenehme Orte wie eben gute Cafés nicht existent, Restaurants nur zwei an der Zahl vorhanden und brauchbare Supermärkte nur in weiter Ferne erreichbar sind. Das Umfeld war zu Beginn durch das Polizeipräsidium nebenan gefühlt sicher. Aber als die Polizei den Standort wechselte, das Präsidium abgerissen und dort eine mehrjährige Neubauphase für luxuriöse und gesichtslose Wohnungen in Wohnsilos begann, war es vorbei mit Ruhe und Sicherheit. Lärm, Einbrüche, Schimmel. Weg hier.

Als ich die mögliche neue Wohnung zum ersten Mal sah und das nähere Umfeld mit Herzklopfen erkundete, war es um mich geschehen. Mittendrin. Neusser Straße. In Nippes. Endlich ein Altbau mit hohen Decken. Resonanz! Dazu nette Nachbarn mit Grill auf dem Balkon. Ganz wichtig.

Der Umzug war natürlich schweißtreibend und es dauerte gute dreieinhalb Wochen bis Telefon und Internet verfügbar waren. Diese Offline-Wochen habe ich maximal genossen. Lesen, jeden Tag ein paar neue Straßen erkunden und einfach ankommen. An freien Tagen verließ ich das Haus am Morgen und ließ mein Gefühl entscheiden, wohin es geht. Treiben lassen.

Nippes ist international und kulinarisch sehr verführerisch. Überall und ganz nah sind Cafés, Restaurants und Supermärkte. Selbst im Netto-Markt gegenüber gibt es prämierten Wein, der gut schmeckt und nicht schädelt. Das türkische Café schräg gegenüber verlangt äußerste Willenskraft, um nicht beim ersten Besuch das gesamte Sortiment an Baklava durchzuprobieren. Der Kaffee dort ist eine sehr energiegeladene Mischung. Diese ist nach dem Konsum der süßen Kalorienbomben allerdings auch angebracht, um dem Gebäckkoma zu entrinnen.

Auf dem täglichen Markt auf dem Wilhelmplatz gibt es fast alles mögliche und unmögliche zu erstehen. Die Stimmung ähnelt einem orientalischem Basar. Nur die Schuh- und Socken-Händler sind enttäuscht. Meine Schuhgröße liegt oberhalb ihres Angebotsportfolios. Also kein Geschäft mit dem großen, dunklen Mann mit den großen Füßen – schade.

An fast jeder Ecke an der Neusser werden die Spiele der EM auf Großbildschirmen übertragen. Das Publikum ist sehr emotional. Jeder Spielzug wird mehrsprachig kommentiert. Nach fast jedem Spiel gibt es Tränen, aus Freude oder Trauer. Das ist also diese vielbeschworene Veedels-Stimmung. Interessant.

Sehr lustig ist es beim Italiener gegenüber meiner Wohnung. Die sehr stylischen Gäste am Nachbartisch schwärmen ihren Freunden aus Sonst wo, die gerade in Köln zu Gast sind, von den tollen glutenfreien Nudeln und Pizzen vor. Beide Teiggerichte seien total lecker, gesund und nicht zu schwer. Beide, Einheimische und Gäste sind cool tätowiert, die Mädels tragen 80ziger Jahre Brillen, die Jungs Vollbart. „Und die Inhaber sind ja so waaaahnsinning nett.“

Ich frage den Kellner daraufhin nach einem glutenvollen und bitte sehr schweren Nachtisch und dazu, bitte, einen waaaaaahnsinnig scharfen Espresso Doppio. Dafür werde ich von den Nachbartischen mit hasserfüllten Blicken belohnt und der Kellner grinst mit breit an.

Ich fühle mich gerade so waaaahnsinnig authentisch.

Auch bemerkenswert: Jeder Buchladen und jedes Kleidungsgeschäft in Nippes hat eine umfangreiche Kinderabteilung. Hier hat jede Frau ein oder mehrere Kinder, ist schwanger oder arbeitet hart daran es zu werden. Sitze ich vor einem Café und genieße etwas Flüssiggold – was öfters vorkommt – und lese ein Buch zur seelischen Erbauung, kommt es fast unweigerlich zur Kontaktaufnahme mit irgendeiner netten, sommerlich gekleideten jungen Frau am Nachbartisch. Die immer auf eine Freundin wartet, die aber dann doch nicht auftaucht. „Wo gehst du denn so hin?“ und „Was ist dein Lieblingsplatz in Nippes?“ Solche Fragen bedingen zwangsläufig eine lebhafte Unterhaltung, die mir mein neues Veedel noch etwas sympathischer macht.

Natürlich werde ich die umliegenden Clubs nach und nach austesten (Heimathirsch = Jazz, quasi direkt vor der Haustür!) und darüber berichten.

Gut, ich bin noch nicht ganz assimiliert. Hier weiß anscheinend jeder Einwohner, welchen Bio-Weißwein er spätestens um 18 Uhr öffnen wird. Von diesem Zustand bin ich noch weit entfernt. Das ist auch gut so. Ich möchte zwar in Fülle leben, aber nicht unbedingt dauerhaft zur Glaubensgemeinschaft der schluckenden Bio-Spechte konvertieren.

Trotzdem gebe ich mich den vielfältigen Versuchungen dieses Veedels gerade sehr gern hin. Ich spüre eine sehr entspannte Behaglichkeit. Ich werde mich daran gewöhnen.