Langsam wird es hell draußen. Ich sitze in einem mit Patienten gut gefüllten Wartezimmer eines Zahnarztes in der Kölner Südstadt.
Gleich wird mir ein Zahn gezogen. Es ist das erste Mal. Ich verliere ungern Körperteile, auch wenn es auf operativem Wege geschieht und der Eingriff eine Verbesserung meiner gesundheitlichen Situation bringen soll. Ich war bisher immer vollständig und fühle mich mit meinen Organen eng verbunden. Selbst wenn nicht mehr alle in 1A-Zustand sind.
Aber dieser im linken, unteren Kiefer beheimatete Zahn hat mich in den letzten Jahren Nerven, Geld und viel Pein gekostet. Nach drei operativen Eingriffen und der leider vergeblichen Hoffnung auf ein Abklingen der Entzündung kommt es jetzt zur Ultima Ratio.
Vorhin lief eine Zahnarzthelferin mit Hammer und Meißel an der gläsernen Tür des Wartezimmers vorbei. Gleich leiht sie sich bestimmt noch eine Zange bei den Handwerkern im Erdgeschoss aus. Bei jedem Eingriff wird das Instrumentarium etwas gröber.
Bei den beiden vorherigen Wurzelspitzenresektionen hat der Chirurg zuerst das Zahnfleisch aufgeschnitten, dann abgeklappt, mit einer Fräse die Wurzelspitze entfernt, eine Membran eingesetzt und dann das Zahnfleisch wieder angenäht. Bei der zweiten, vom Ablauf her identischen OP, hat er mittels einer Kamera auf seiner Stirn den Eingriff gefilmt und mir danach die blutigen Details am Bildschirm erklärt.
Ich hatte ihn darum gebeten. Er war sehr angetan vom Interesse des Patienten an seiner Arbeit. Das Video war etwas verwackelt und ich hatte Mühe, mich in den von Rottönen dominierten Aufnahmen zurechtzufinden. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass mein gesamter Unterkiefer und die linke Gesichtshälfte durch ein wirksames Betäubungsmittel gelähmt waren.
Beim Sprechen konnte ich den Speichelfluss nur mühsam kontrollieren. Das wäre aber normal, teilte mir der junge, aber schon sehr erfahrene Operateur mit. Und ich solle mir bitte nicht die Zunge abbeißen. Ich hätte schon sichtbar darauf rumgekaut, sie sei aber noch vollständig.
„Danke ffön ffür ´en ´inweis.“
Er lächelte gütig und nickte.
Die Kieferchirurgen-Helferin, die links von meinem Kopf sass, verhinderte während des Eingriffs per Kieferchirurgen-Staubsauger ein Ablaufen des Speichels und einer kalten Flüssigkeit in Richtung meines Halses. Die sehr variable Liege unter mir hatte mich in die tiefstmögliche Stellung gebracht. So konnte ich direkt in das gleißende Licht des Scheinwerfers über mir blicken. Die Sonne war aufgegangen.
Im linken Unterkiefer arbeitet der in blau gewandete, bärtige Kiefer-Malträteur, zu meiner Linken seine aufmerksam die knochen- und blutsaugende Helferin. Sie war auf der mir, sehr nahen, oberen linken Brust mit einem tätowierten Schriftzug versehen.
Der Schriftzug stand auf dem Kopf, jedenfalls sah es aus meiner eingeschränkten Perspektive so aus. Mein Blick ging von tief unten nach rechts steil oben. Es waren zwei Worte und danach eine Zahlenfolge. Durch den stetigen Druck des Bohrers im Unterkiefer bewegte sich mein Kopf leicht, obwohl ich versuchte stillzuhalten.
Es gelang mit nicht, die Zahlen-Wortkombination zu entziffern. Gesichtslähmung plus handwerkliche Arbeiten erschweren das Lesen ungemein. Vielleicht waren das ihre Personaldaten? So hätte der Chirurg immer alle wesentlichem Information schnell im Blick. Das würde Sinn machen. Die Praxis wirkte generell recht professionell auf mich. Im Flur hingen diverse Zertifikate mit Bestätigungen erfolgreich durchgeführter Schulungen. Die wartenden Patienten, auch die Schmerzpatienten, wagten in dieser Umgebung kaum Klagelaute von sich zu geben.
Auch optisch macht die Praxis was her. Alle Wände waren blau. Wenige, aber um Design bemühte Möbel waren gezielt platziert. Von dem Zimmer, in dem der erste Eingriff vor ein paar Monaten stattfand, hatte ich sogar einen guten Blick auf den Dom. Gut, es regnete leicht, aber das kann ich dem Operateur als Kassenpatient nun wirklich nicht anlasten. Er kam rein, wusch sich die Hände, legte Einweghandschuhe an und verrichte sein Handwerk. Dann ging er in das Zimmer nebenan und wiederholte die Prozedur mit einem anderen Patienten.
Danach hatte ich eine Woche lang einen Unterkiefer wie ein Boxer nach dem letzten Fight und schlief dank exotischer Schmerzmittel in Tropfenform wie in Watte gepackt.
Alles umsonst. Jetzt kommt er endgültig raus. Und die vor wenigen Jahren dafür hergestellte Keramik-Krone auch. Nach gut drei Monaten ist die Baulücke im Unterkiefer angeblich wieder verknöchert. Dann könnte ich mir selber ein Implantat einschrauben. Ich fühle mich schon länger als begabter Hobby-Chirurg. Habe ja drei OP´s aus nächster Nähe verfolgt. Etwas Praxis könnte jetzt nicht schaden.
Neben mir sitzt eine ältere Frau. Sie nestelt betont unauffällig an einer Seite in einer Frauenzeitschrift herum. Aha, ein Gutschein für ein Anti-Aging Creme. Sie gibt Ihnen viele Jahre zurück verkündete der geschwungene Schriftzug darauf.
Die Dame schreitet nun zur Tat. Sie beginnt, die Seite auszureißen. Ganz, ganz langsam. Damit niemand ihre Schandtat bemerkt. Das funktioniert super. Das Geräusch langsam zerreißenden Papiers erfüllt das Wartezimmer. Ein paar Leute schauen interessiert auf. Ich räuspere mich lauter als nötig und blicke sie direkt an. Sie hält kurz den Atem an, räuspert sich ebenfalls, ohne meinen Blick zu erwidern, und reißt dann mit Schwung die nur noch an wenigen Papierfasern hängende Seite endgültig aus. Das wird sich bei mir vermutlich gleich etwas anders anhören.
Die Glastür des Wartezimmers schwingt auf. Eine mit strahlend-weißen Zähnen versehene Zahnarzthelferin lächelt mich voller Vorfreude an. Sie weiß, was kommt und freut sich sichtbar auf den Eingriff. Brav folge ich ihr.
Laura
Ich finde deinen Blog großartig da du gewöhnliche Alltags situationen und Momente die du erlebst so wunderbar selbstironisch und wirklich lustig wieder gibst . Dein Blog ist sehr unterhaltsam und mein Wochen Highlight. Mach weiter so! (hör bloß nicht auf zu schreiben)
Entdecker unterwegs
Hallo Laura, vielen Dank. Ich weiß zwar nicht, was du mit „ironisch“ meinst, ich mache aber mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie bisher weiter.