Weihnachten und das Jahresende naht und viele Menschen stellen sich ihren Themen. Schwere Themen. Probleme, die sich mit dem Sein und Selbst beschäftigen. Wo komme ich her? Wo will ich hin? Warum bin ich mit meinem Leben unzufrieden? Bin ich mit dem zufrieden, was ich tue? Was will ich? Wen will ich? Bin ich an dem Ort zufrieden, wo ich bin? Sinnfragen.
Ich arbeite in dieser Zeit vermehrt als mobiler Coach und Espresso-Therapeut für unaufschiebbare Lebensfragen. Das heißt, ich treffe meine Kundschaft diskret in Cafés. Oft sind es Notfalleinsätze, weil ALLES auf dem Spiel steht. So steht es zumindest in den Kurznachrichten, die ich auf das Handy erhalte. Dann muss ich kurzfristig ausrücken und mich ins Weihnachtsgetümmel stürzen.
Teilweise sind die Fälle wirklich übel. Nach der Begrüßung werden zuerst die Getränke zur Begleitung des Gespräches bestellt. Das ist wichtig. Ein Ritual, dass dem Gespräch einen Rahmen und damit der Hilfesuchenden Halt gibt.
Zwei Prosecco für sie, ein Espresso Doppio für mich. Dann geht es los. Ich schaue sie an. Der Einstieg in das Gespräch kann sehr heikel sein. Es beginnt oft mit einer schlimmen Weinattacke. Damit meine ich Tränen, nicht Wein im Sinne von Riesling, Chardonnay oder einem leichten Roséwein mit dem Duft nach Sommerfrüchten. Weinen ist gut, weil es Druck abbaut. Wein trinken ist gut, weil es wirkliche Freunde noch enger verbindet.
Die Kellnerin ist fix, die Getränke sind schon da. Der Doppio sieht gut aus, schöne Crema.
Es gibt Beziehungsknatsch. Dieser Fall ist besonders diffizil: Der vierte große Pax-Schrank (im handlichen Format 160 x 55 x 236 cm) von Ikea passt nicht mehr ins Schlafzimmer. Sie braucht ihn dringend, weil ihre Schuhsammlung, die auf drei Schuhschränke im Flur verteilt ist, wieder an einem Ort zusammenfinden soll. Außerdem werden die Schuhe im Winter immer kalt im Flur. Weil er die Heizung im Flur immer abstellt. Der gewissenlose Rüpel. Und dann hat sie Morgens kalte Füße. So weit, so klar.
Dabei hat sie ihm schon eine Alternative angeboten. Aber ihr Ehemann will nicht zulassen, dass der Pax-Schrank vor dem einzigen Fenster im Kinderzimmer aufgestellt wird.
„Weil die Kinder Tageslicht brauchen! Meine kalten Füße sind ihm total egal!“
Sie trinkt einen hektischen Schluck vom dem Prosecco. Ihr Glas ist schon fast leer. Meins ist fast voll. Traditionsgemäß werde ich ihr den Rest meines Proseccos gleich anbieten. Sie braucht das jetzt.
„Dieser Egoist!“
Ich kenne das. Normal sind Vorwürfe an den Partner wie: „Du liebst mich nicht!“ oder „Ich wusste es, du hasst mich. Du hast mich immer gehasst!“. Kenne ich. Kenne ich alles. Ich habe Erfahrung als Weihnachtstherapeut.
Aber da fehlt doch was? Was war das noch?
„Bestimmt ist er ein Narzisst!“
Aaah genau, dass hat gefehlt.
Ich nicke hin und wieder und mache mir Notizen für meinen Einkaufszettel. Manchmal schaue ich nachdenklich in die Crema des Espresso vor mir. Und grübele still. War der eingestellte Mahlgrad für die Bohnen nicht eine Nuance zu viel? Seit neuestem trinke ich den Espresso ohne Zucker. Ich möchte wissen, ob meine Geschmacksnerven dadurch noch sensibler werden.
Dann stockt der Redefluss, sie blickt mich mit aufgerissenen Augen an und fragt:
„Was ist? Was denkst du?“
Ich streiche mir durch den Bart und frage mich, ob ich den Bart weiter wachsen lassen soll. Oder wieder radikal kürze. Am Kinn sind die Haare weiß, an den Seiten schwarz-braun mit teilweise rötlichen Spitzen. Sieht geil aus. Aber manchmal habe ich das komische Gefühl, das mein Blickfeld zuwächst.
„Du glaubst, ich bin ungerecht?“
Ich höre mir die Schilderungen immer an, ohne zu unterbrechen. Ich bin ein guter Zuhörer. Stundenlang kann ich zuhören und gleichzeitig gedanklich meine Wohnung feucht durchwischen und die Regale abstauben, Themen für neue Blogbeiträge entwickeln und am Rhein entlang joggen.
Vor mir liegt mein kleines, rotes Notizheft. Daneben ein kleiner Füller. Ich mag es, mit Tinte zu schreiben und zuzuschauen wie die Tinte trocknet und dabei leicht ihre Farbe verändert.
„Nein.“
Ich schüttele leicht den Kopf und blicke im Café umher. Das Café ist überfüllt. Es ist ordentlich warm, trotzdem haben die Omis alle Ihre Wintermützen auf dem Kopf.
Ich beuge mich vor und sehe sie an.
„Sieh mal, die Schuhe sind materiell. Stoff, Leder, Kork, Farbe, Klebstoff – zusammengebracht durch kleine Kinderhände in Asien.“
Der Satz ist gut. Den werde ich bald recyceln.
Sie blickt mich betroffen an.
„Deine kalten Füße sind ein Teil deines Körpers. Und der ist oft kalt. Aber was passiert? Er wärmt deine Füße jeden Abend, obwohl er selber leicht fröstelt. Jeden Abend.“
Ich betone jeden Buchstaben. Das steigert die Betroffenheit und streichelt meinem Ego. Offiziell haben Therapeuten kein Ego. Aber früher war auch mehr Lametta.
„Eine Zusammenführung der Schuhsammlung im Schlafzimmer könnte eine Herabwürdigung seiner Fuß-aufwärm-Bemühungen sein.“
Sie neigt den Kopf.
„Stimmt.“
Und dann kommt direkt die nächste Heulattacke. Jetzt glotzt jeder Gast in diesem Laden erst sie an und dann mich. Bestimmt denken alle, dass ich mit ihr gerade Schluss gemacht habe oder ihr den Kaschmir-Pulli für 2.000 Ocken nicht gönne.
Dieser Fall ist typisch für innerfamiliäre Konflikte in der Weihnachtszeit. Aber es gibt ganz andere Fälle. Manchmal fängt es an den Rändern des Körpers an und wird dann zu einem seelisch-körperlichen Gebrechen. Ein Gestern bei der Nageltante frisch überarbeiteter Fingernagel ist am Morgen vor der Firmen-Weihnachtsfeier eingerissen? Oder sogar ganz abgerissen?
Dann müssen schnell Lösungen her: Krankmelden? Auswandern? Gips um den kompletten Arm und dann tapfer zur Feier erscheinen? Arm abhacken?
Ich bin zwar Hobby-Chirurg, empfehle dann aber lieber eine Auswanderung. Ich operiere ungern ambulant in einem überfülltem Café vor Publikum.
„Ja, auswandern kann eine Lösung sein. Am besten in die Staaten.“
Deshalb habe ich immer ein USA-Prospekt dabei. Trump ist schon vorne drauf. Ich lege es wortlos auf den Tisch. Sofort relativiert sich die Bedeutung des Nagelbruchs etwas. Ich spüre es.
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