Auf ihrer rot-weißen Küchenschürze steht Küchengöttin, darunter ist ein lachendes Smiley. Auf meiner Schürze steht Wo ich bin, ist VORNE.  Das hilft  bei der Unterscheidung zwischen Lehrerin und Schüler. Es duftet himmlisch nach Schokoplätzchen.

„Seht euch diesen tollen Cookie an! Dieser Duft!“

Die Tonlage der fröhlichen Diplom-Hausfrau ist etwas zu schrill für meinen Geschmack. Sie hält einen kleinen, einen winzigen Schoko-Cookie in die Höhe und schaut mit geröteten Wangen ihre erwartungsfrohen Backseminarteilnehmer an.

„Die Oberfläche! Woran erinnert euch die Oberfläche?“

Ihr „Oberfläche“ hört sich an wie Obärflächä. Um mich herum schauen fünf Frauen und drei Männer auf ihre selbstgebackenen Cookies und sich dann gegenseitig fragend an. Offenbar fällt eine Antwort auf die gestellte Frage schwer.

Ich betrachte die schimmernde Oberfläche des Weißweines im bauchigen Glas vor mir auf dem Tisch. Entspann dich. Sie gibt ihr Bestes und möchte ihr Wissen mit uns teilen. In weiß sofort, dass diese Suggestion nicht funktioniert.

Sie wiederholt sich. Nochmal das Ganze.

„Woran erinnert euch die Oberfläche?“

Die Öberflächenfragerei nervt mich. Dabei bin ich gar nicht im Vorweihnachtsstress und fühle mich entspannt. Und der Weißwein ist wirklich gut.

Dann betrachte ich doch meine drei Cookies eingehender. Die anderen Teilzeitbäcker haben zwischen sechs bis zehn Cookies vor sich liegen. Ich drei. Alle hatten am Anfang die gleiche Menge an Zutaten auf dem Tisch. Ich war als Erster mit dem Teigpanschen fertig und habe den Backofen mit meinem buntem Cookie-Dreiklang bestückt. Es dauerte bei den vorgegeben 180 Grad Celsius ein paar Minuten länger als gedacht, bis aus den Schokoteighaufen Cookies mönströsen Ausmaßes wurden. Es sind eher Cookie-Kuchen geworden.

Jetzt zu der alles entscheidenden Frage: Woran denke ich bei der Oberfläche?  Die Oberfläche erinnert mich an die zerbröselten Backsteine auf dem Gehweg in der Nähe der Haltestelle der U 18 an der Luxemburger Straße.

Die Diplom-Hausfrau ist jedenfalls von ihren Cookies begeistert:

„Diese wunderbare Textur! Wie aus dem Lehrbuch!“

Die Textur meiner Mega-Cookies erinnert mich an Bilder der Mondoberfläche. Ein paar Felsbrocken, dargestellt durch weiße und dunkelbraune Schokoladenstücke, und der Rest ist eine endgeile Mischung aus Schokolade, Butter, Zucker, Milch und noch mehr Schokolade.

Unsere Backbeauftragte geht jetzt nach und nach zu jedem Teilnehmer des Kurses Entspanntes Backen in entspannter Atmosphäre und kontrolliert kritisch die Ergebnisse der Backbemühungen. Sie weiß alles und das auch noch besser. Gleich bei Beate und Achim, die an der Arbeitsfläche 01 vorne links gewerkelt haben, findet sie schwerste Mängel. Ich kann nur Wortfetzen aufschnappen, aber ich sehe ihren strengen Zeigefinger in die Höhe steigen und die Köpfe der ertappten Schüler senken sich reumütig. Diese Versager.

Claudia, meine Nachbarin von Arbeitsfläche 08, zwinkert mir zu. Sie ist etwa 1,80 m groß, hat schöne lange rote Haare, ein schmales Gesicht und wache Augen. Sie hebt ihr Weinglas und prostet mir wortlos zu. Sie hat den Weißwein in ein Rotweinglas gefüllt. Banausin. Das Glas ist bestimmt zu zwei Dritteln gefüllt. Und das ist nicht ihr erstes weißweingefülltes Rotweinglas heute. Die Uhr hinter ihr an der Wand zeigt 11:14 Uhr MEZ. Respekt.

Sie trägt ein Kleid, welches vor 30 Jahren als Gardine durchgegangen wäre. Ich sehe viele bunte Muster und Formen, in der Mehrzahl psychedelische gelb-rote Kreise. Der Rest ist schwer zu erkennen. Das Kleid ist stellenweise geweißt. Sie muß kürzlich in einen Mehlsturm geraten sein. Oder sie hat Kokain unsachgemäß angewendet. Jedenfalls hat sie mehrere große, sehr weiße Flecken in Brust- und Bauchhöhe.

Ich lächle zurück, soweit mir das möglich ist. Ich höre mich sagen:

„Die Oberflächenflächentextur meiner Cookies ist mir sehr wichtig. Seit Jahren arbeite ich an der perfekten Textur.“

Sie hebt die Augenbrauen, neigt den Kopf etwas nach links und sagt:

„Die richtige Oberfläche ist eines der wichtigsten Themen der Menschheit auf diesem Planeten.“

Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Dann wird kollektiv der Weißwein dezimiert. Herrlich.

Da tritt die Backkurschefin an meine Arbeitsfläche. Vermutlich hat sie unsere Konversation mitgehört. Sie blickt skeptisch auf meine drei Cookies. Ich empfinde schon diesen skeptischen Blick als Herabwürdigung meiner Backkünste. Mein bester Kumpel würde jetzt wahrscheinlich sagen:

„Du hast ein Thema mit deinem Selbstwertgefühl, deinem Wert.“

Ich würde antworten:

„Nein. Das Ego ist stark in mir, junger Therapeut.“

Sie schaut mich mit einem Gesichtsausdruck leichter Überheblichkeit an und fragt:

„Und? Zufrieden mit dem Ergebnis?“

Gehe ich auf diese schnippische Frage ein? Nein. Ich trinke noch einen Schluck, setze das Weinglas ab, beuge mich etwas vor, bis ich die Oberfläche ihrer Gesichtshaut detailliert betrachten kann. Und setze ein strahlendes Lächeln auf.

Ich sage:

„Sonne, Mond und Sterne.“

Sie ist verdutzt:

„Was?“

Sie starrt mich an. Dabei bemerke ich zum ersten Mal die ungleichmäßige Textur ihrer Gesichtshaut. Die größten Krater wurden mit orange-braunem Make-up notdürftig verfüllt. Aber diese Oberfläche kann nicht überzeugen. Ich zeige auf den größten Cookie mit weißer Schokolade,

„Sonne“

dann auf den Zweitgrößten (mit drei Sorten Schokolade!),

„Mond“

und den zerbröselten Dritten,

„und die Sterne“

Der dritte Cookie besteht aus vier Teilen. Jedes davon ist größer als der größte Cookie meiner Nachbarin.

„Wow!“

Sie lacht ein lautes Lachen.

„Hier hat jemand Astronauten-Cookies gemacht!“

Ein weiteres fettes, sehr texturiertes Lachen schallt durch den Raum. Alle acht Teilnehmer des Backkurses schauen erst auf die epischen Schokoladenbackwaren vor mir und dann mich an. Ich ernte drei mal anerkennendes Nicken, der Rest guckt skeptisch bis unbeteiligt. Achim glotzt, Beate kichert. Claudia grinst und trinkt den nächsten Schluck.

Ich hebe den Sonnen-Cookie mit beiden Händen hoch und grinse. An Arbeitsfläche 07 wurden Sternen-Cookies erschaffen. Ich bin stolz.

Schöne Weihnachten.