Das Bild besteht aus vielen verwischten Rottönen mit einigen blauen Einsprengseln. Sie findet das gut.
„Das sieht aus wie:
Durch die Nacht mit viel Koks /
bis der Morgen uns erwacht.“
Sie lacht. Der Text ist Ok, bei der Melodie des Originals kriege ich aber direkt Fluchtgedanken.
„Ich finde das Bild sehr In-a-gadda-da-vida. Also die Langfassung, nicht die Single.“
„Stimmt. Für die Single ist das Bild viel zu groß.“
Sie geht eins weiter. Das Bild daneben ist farblich wesentlich abwechslungsreicher. Aber sie ist kritisch.
„Dieses Bild sieht aus wie ein Unfall, bei dem einige Eimer Farbe und ein psychotischer Maler in einem engen Raum eingesperrt waren.“
„Das ist kein guter Vergleich. Wenn jemand keine Rockmusik mag, aber darüber reden oder schreiben muss, sagt er „Diese Songs hören sich an wie ein vorbeifahrender Eilzug.“ Und noch mehr Bla Bla. Das ist mir zu wenig. Ich erwarte die Bereitschaft, sich mit einer Sache ernsthaft auseinanderzusetzen. Auch wenn einem die Sache nicht gefällt.“
Sie sieht mich streng an.
„Klugscheißer. Du hast vorhin doch gesagt, dass du gar nichts erwartest.“
„Das meinte ich im Hinblick auf unser Treffen. Keine Erwartungen, einfach mal schauen was kommt. Und sich vielleicht positiv überraschen lassen.“
„Überrascht hast du mich jedenfalls schon. In zwanzig Minuten vier doppelte Espresso und einen Milchkaffee zu trinken, das hat schon was Überraschendes.“
„Na ja, da ist auch viel Gewohnheit dabei. Meine Espressomaschine ist defekt. Ich liebe es, wenn die Maschine brummt und die Küche von diesem Kaffeeduft erfüllt ist. Ich verbinde mit starkem Espresso Lebensqualität und Geschmack.“
„Du trinkst zu viel vom dem Zeug. Das macht mir etwas Angst. Und die Kellnerin war kurz vor dem Durchdrehen.“
„Ich trinke Morgens zwei Tassen und Nachmittags noch eine. Das reicht auch.“
„Nach dem Dritten Espresso hast du plötzlich angefangen in hohem Tempo komisches Zeug zu reden.“
„Echt? Habe ich gar nicht bemerkt… Wieso ist die Kellnerin durchgedreht?“
„Du hast ihr gesagt, das Muster ihrer Strümpfe wäre visuell unausgegoren und kaum zu identifizieren. Weil ihre Hautfarbe so dunkel ist, dass der Kontrast zwischen Hautfarbe und Strumpf zu schwach ausfällt und das menschliche Auge hier eindeutig an seine Grenzen kommt. “
So? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich fühle mich etwas ertappt. Der Besuch in dem Café ist vielleicht erst eine halbe Stunde her und ich habe schon wieder alles vergessen. Offenbar hat das Koffein mein Kurzzeitgedächtnis gelöscht. Seit einer Woche ist die Fastenzeit vorbei und ich esse wieder Süßigkeiten ohne Ende. Und trinke noch mehr Espresso. Und schon degeneriert mein Gedächtnis.
„Das hast du dir alles gemerkt? Respekt.“
„Entweder bist DU ein begeisterter Augenarzt oder ihr Strumpfmuster hat dich ordentlich geflasht.“
Sie grinst mich ziemlich breit an. Ihr Gesicht ist schmal. Ihre hellen wachen Augen leuchten richtig.
„Weder noch. Glaube ich zumindest.“
Sie geht zum nächsten Bild. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Sie grinst jetzt sehr feist. Da fällt mit auf: Ich habe ihren Namen schon wieder vergessen. Irgendwas mit „M“. Aber ich habe sie schon drei Mal danach gefragt. Zumindest das weiß ich noch. Es gibt Hoffnung.
„Okay, wie findest du das hier? Ich finde, der Künstler hat eine schwerwiegende blaue Phase und seine Freundin hat ihn kurz zuvor verlassen. Weil er ausschließlich im Schlafzimmer malt. Und der Gestank der Ölfarbe hat sie genervt.“
Das Bild ist farblich zweigeteilt. Rechts ist alles komplett knallrot, links viel schwarz bis schwarzgrau. Garniert mit ein paar Kratzern. Der Übergang zwischen den beiden Farben ist diffus verwischt.
„Nein, es ist ganz anders. Ich sehe deutlich Spuren von schlaflosen Nächten. Er hat im Fieberwahn gemalt. Ohne Pause. Das geht nur mit viel Espresso. Und seine Freundin hat ihn verlassen, weil er die Farbe unverdünnt mit ihren Strumpfhosen auf die Leinwand aufgetragen hat. Ohne Sie um Erlaubnis zur Zweckentfremdung der Strümpfe zu fragen. Und er hat ständig ihren Namen vergessen. “
Aus ihrem Grinsen wird ein Lachen.
„Verehrter Herr Augenarzt, ich glaube du bist öfter hier.“
Das könnte stimmen. Ich weiß aber nicht mehr, wann ich zuletzt hier war. Und mit wem. Egal, ich lasse mich einfach mal überraschen.
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