„Gut, ihr seid anwesend. Auch mental. Ich spüre es. “
Ich blicke auf den Text auf meinem Schoß. Das geht so nicht. Ich stehe auf und halte den Text nun auf Augenhöhe. Das ist besser für Kopf und Nacken.
Ein Moment der Stille folgt.
„Verehrtes Publikum, meine Damen: Der Entdecker ist anwesend!“
Dies ist einer meiner schwierigsten Texte. Aber heute muss es sein. Zum Ruhme des Schriftstellers. Mein Ego verschlingt mich. Ich gebe mich ihm ganz hin. Keine halben Sachen machen!
Ich rede laut und leise, akzentuiere, übertreibe, relativiere und schreie. Das Schreien einiger Textpassagen ist essentieller Teil der Geschichte. Ich versuche mich an der Cholerik eines Klaus K. zu orientieren, aber mir fehlt noch dieses plötzliche brutale Umschalten von nüchterner Aufmerksamkeit zu entfesselter Aggression. Wahrscheinlich bin ich einfach zu sehr kopfgesteuert. Als ich diesen Text zum ersten Mal vor Publikum vorgetragen habe, war es am Ende Totenstill. Einige der Damen im Publikum hatten eine ungewöhnliche Blässe im Gesicht und mehrere Personen, die zuvor dem Alkohol zugesprochen hatten, erschienen mir plötzlich sehr nüchtern. Da hatte sich etwas eingebrannt.
Heute zwinge ich mich zu Pausen und blicke dabei meinen Zuhörerinnen länger als schicklich in die Augen. Der Dank ist uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Ich arbeite mich vor. Jedes Zeitgefühl ist verloren gegangen.
Dann, der letzte Satz.
„Es ist vorbei. Aber es hört nie auf. Es geht immer weiter.“
Ich atme ein und aus. War ich zu schnell? Zu laut?
„Vielen Dank.“
Ich setze mich wieder und grinse in die Runde. Zwei, drei Sekunden lang ist Stille. Aufgerissene Augen blicken mich an. Dann fangen alle gleichzeitig wieder an zu atmen. Für einen Moment wird der Sauerstoff knapp, weil das Publikum kollektiv die Lungen befüllt. Danach werden Wein und Sektgläser etwas hastig geleert.
„Wow.“
Das kam von links außen.
„Uff…“
Die Frau rechts neben Angelika. Das immer noch gefüllte Glas in ihrer Hand zittert.
„Prost, Entdecker. Auf die Schlampen dieser Welt.“
Das sagt Angelika, die Gastgeberin und nimmt einen wohlverdienten Schluck. Sie grinst und beginnt, die Gläser ihrer Freundinnen mit frischem Lesungs-Nass zu befüllen. Der Refill wird dankbar aufgenommen
„Du bist echt böse.“
Das sagt meine bisher stille Kritikerin. Und sie grinst dabei! Ihr Rotweinglas ist leer. Komplett leer.
Ich tue überrascht.
„Ich? Böse? Das kann ja gar nicht sein. Ich weiß nicht mal, was das ist.“
Ich werde weiter kritisch beäugt, diesmal aber untermalt mit einen leichten Grinsen. Die Gastgeberin gluckst beim Nachfüllen der Gläser.
„Angelika, ich bitte dich. So kenne ich dich ja gar nicht.“
Sie drückt das Kreuz durch und klimpert mit den Augen.
„Bitte entschuldige mein UNÄSTHETISCHES Verhalten!“
Schallendes Gelächter im Raum. Ich grinse von einem Ohr zum Anderen.
„Du hast uns verarscht, oder nicht?“
Die Fragestellerin hat die Arme verschränkt und hält ein soeben frisch gefülltes Sektglas in Höhe ihres Mundes. Durch das Glas mit seinen aufsteigenden Perlen sieht ihr Mund leicht fischartig aus. Der Fischmund ist allerdings sehr sorgfältig geschminkt. Ein ungewöhnlicher Anblick.
„Nein. So etwas würde ich nie tun.“
Wieder Gelächter.
„Der grundlegende Gedanke an Ästhetik ist mir schon wichtig. Ästhetik ist auch in der Unterhaltung wichtig. Und um Unterhaltung geht es ja hier und heute. Nicht wahr?“
Ich hebe mein Wasserglas und proste meinem jetzt sehr entspanntem Publikum zu. Beim Zurücklehnen merke ich, wie die Anspannung aus meinen Körper flüchtet. Es ist gut gegangen. Nein, es war gut. Ich habe kein Olivenöl in die Waschmaschine gekippt. Dafür aber ein paar heftige Emotionen ausgelöst und gut unterhalten. So kann es gern weitergehen.
Hier geht es zum ersten Teil der Lesung.
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