Ich bin überrascht, sogar etwas erschrocken. Jetzt ist sie da, die Ehe für alle. Warum schon jetzt? Wir haben das Jahr 2017. Das ging verhältnismäßig schnell für deutsche Verhältnisse. Im Regelfall schaffen es die religiös-konservativen Parteien im Bundestag doch, jedweden Fortschritt in der Gesellschaft zu unterbinden. Und zwar so lange, bis auch dem letzten Menschen in diesem Land klar wird, dass das nicht die Bewahrung von Bewährtem ist, sondern Leichenstarre. Beides ist nicht gut und riecht auch nicht gut. Und dann müssen ein paar progressive Parteien ran und in ein paar Jahren nachholen, was die Berufs-Konservierer in den 12 bis 16 Jahren zuvor versäumt haben. Das ist gar nicht so leicht. Erst vorsichtig wiederbeleben, dann langsam wieder aufrichten, vorsichtig gehen lernen… Und überall Widerstand von Institutionen, die um ihre lang per Lobbyarbeit errungenen Vorteile bangen.

Ich bitte formell um Entschuldigung für meinen Sarkasmus. Am letzten Freitag ist mir wieder mal deutlich geworden, warum wählen zu gehen das absolut Mindeste ist, was die Bürger dieses Landes tun müssen. Was da den Abgeordneten des Bundestages im Verlauf der Debatte über die Ehe für alle über die Lippen gekommen ist, spottet jeder Beschreibung. Das ist einer dieser Momente, an denen der Stillstand in der deutschen Politik gut sichtbar wird. Genauer gesagt bei den Verursachern des Stillstandes, den konservativ-religiösen Parteien.

Die Entscheidung pro oder contra Ehe für alle ist keine Gewissensentscheidung. Warum sagen die Gegner der Ehe für alle, diese würde dem Grundgesetz widersprechen? Das Grundgesetz ist von 1949. Warum wurde das Grundgesetz nicht schon längst geändert und an die Realität angepasst? Warum wird Glauben dem Wissen vorgezogen? Oder, anders formuliert, warum wird die Realität von so vielen Abgeordneten nicht anerkannt? Ist das eigene Weltbild vielleicht so warm und kuschelig, weil es so eng ist?

Anderes Beispiel: Warum gibt es noch immer kein Einwanderungsgesetz, welches klar festlegt, wer unter welchen Bedingungen nach Deutschland kommen darf und was der Einwanderer und der Staat für eine erfolgreiche Integration zwingend tun müssen? Zum Beispiel: Alle Einwanderer müssen die deutsche Sprache lernen, ohne Ausnahme. Dafür braucht es gute Bildung, vermittelt an öffentlichen Schulen. Die Strukturen dafür bereit zu stellen und die Ergebnisse zu kontrollieren ist Aufgabe des Staates. Das nennt sich Integration.

Warum kann ein Marktbeherrscher wie Facebook seit Jahren machen, was er will? Datenschutz spielt keine Rolle. Straftaten im Netz werden nicht konsequent verfolgt. Der Staat greift zu wenig regulierend ein und setzt Recht durch. Gegen jeden, der das Recht bricht. Und das, obwohl die größte Partei an der Regierung immer von Sicherheit als Markenkern spricht. Wie wäre es, mal mit den Großen und Mächtigen auf Konfrontationskurs zu gehen und den Rechtsstaat zu leben?

Das alles ist natürlich schwierig, wenn die höchsten Köpfe der Regierung ein klares Wort scheuen. Oder, wenn mal einer den Kopf hebt und klar Position bezieht von Großteilen der Presse niedergemacht wird. Tja, die alten Reflexe funktionieren noch ganz gut.

Kürzlich habe ich einen Artikel von einem Journalisten gelesen, der die Parteitage der CDU, SPD und der Linken besuchte. Sein Fazit: Bei der CDU zieht man Sonntagsklamotten an und huldigt der Führung. Widerspruch ist nicht gern gesehen. Einigkeit vermitteln ist Priorität Nummer eins. Bei der SPD wird die Kleidungsfrage etwas lockerer gehandhabt, dafür um Lösungen gestritten. Streiten, uh, so etwas gibt böse Presse. Gar nicht gut. Bei der Linken wird die Kleidung genutzt um sich und sein Weltbild von den anderen Parteien zu differenzieren. Und gerne Forderungen nach Maximallösungen aufgestellt. Bloß, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, regieren zu müssen. Utopie ist Trumpf.

Wie wäre es, den Stillstand wieder mal für ein paar Jahre aufzulösen und all die Baustellen abzuarbeiten, die seit Jahren brach liegen?