„Das geht ja gar nicht!“

Die beiden Damen am Nachbartisch schauen auf. Bis jetzt haben sie sich gut gelaunt unterhalten.

„Das ist ja eine Weltreise bis hierher! Ich war ewig unterwegs!“

„Jetzt bist du aber da. Setz dich doch erst mal.“

Antwortet eine der beiden bis vor wenigen Momenten gut gelaunten Damen beschwichtigend. Aber die frisch dazugekommene Freundin will sich empören. Und das tut sie auch.

„Das war das letzte Mal, dass wir uns so weit weg verabreden!“

Zwei Augenpaare an blicken sich überrascht an.

Diese drei Frauen waren offenbar in diesem Café verabredet. Und die Weltreisende unter ihnen hat die Anreise leicht unterschätzt. Das kann passieren. Gerade hier in Köln ist die Verkehrssituation oft sehr angespannt. Mit dem Auto zumindest. Der öffentliche Personennahverkehr klappt meist. Wenn es nicht gerade drei Uhr nachts ist und man sich in den äußeren Bezirken aufhält.

Ich lausche gebannt. Die empörte Weltreisende schildert ihre Anreise. Und zwar vom Nachbarstadtteil hierher. Vorher hatte sie noch einen hektischen Termin bei einem Makler. Der wollte schon nicht so wie sie. Der Böse. Das treibt natürlich den Puls. Und dann ist sie her gehetzt. Das waren, Boah!, mindestens sieben U-Bahnhaltestellen. Wenn nicht gar acht oder neun. Das muss man erst mal schaffen.  Und das bei diesen Temperaturen!

Die beiden Frauen reagieren sehr defensiv auf ihre lautstark nörgelnde Freundin. Wie würde ich reagieren? Wahrscheinlich ärgerlich-genervt. Die Nörglerin hat auch noch eine heftig quäkende Tonlage. Ihr Ton, vermischt mit dem Inhalt und ihrer Mimik verleiten mich zu der Aussage, dass ein deutlich lobender Hinweis auf ihre großartige Leistung bei der gefahrvollen Reise von einem Kölner Stadtteil in das  direkt danebenliegende Veedel angebracht wäre. Ein einfaches „Geh weg, du nervende Reise-Dilettantin!“ ist hier zu wenig.

Außerdem schwitzt sie sichtbar. Da sie sich schminktechnisch deutlich ins Zeug gelegt hat, macht ihr Gesicht den Eindruck eines Farbmalkastens mit Glanzlacküberzug. Gewöhnungsbedürftig. Wahrscheinlich war der Makler davon einfach abgelenkt, hat nicht richtig zugehört und folglich auch entsprechende Antworten gegeben.

„Diese Wohnung ist hell, genauer gesagt sogar lichtdurchflutet. Deshalb glänzt hier auch alles. Und die bunten Wandmalereien sind alles original Handarbeiten einer unbekannten Künstlerin.“

Ok, ich verstehe. Sie hat eine große Leistung erbracht und fordert jetzt Anerkennung dafür ein. Ich blicke auf die Wetter-App meines antiquierten Handys: Es sind 26 Grad Celsius. Das ist schon warm. Zumal wir erst 10:30 h haben. Vormittag also. Es wird also noch wärmer. Zugegeben, ich schwitze auch. Allerdings habe ich gerade einen Cappucino und einen doppelten Espresso getrunken. Das fördert natürlich etwas die Entwicklung von Körperflüssigkeiten.

Und überhaupt: Wenn die wüsste, was ich gerade durchgemacht habe! Ein der größten Krisen meines Lebens liegt direkt hinter mir. Ein Stück meiner Existenz ist weggebrochen. Einfach so. Entgegen meinen Befürchtungen hat mich diese Krise nicht aus der Bahn geworfen. Nein, ich bin souverän damit umgegangen.

Vor zwei Wochen ist meine Espressomaschine kaputt gegangen. Sie hat ein paar ungesunde Geräusche von sich gegeben und schweigt seitdem dauerhaft. Schade, sehr schade. Kein leckerer vierfacher Espresso am Morgen mehr. Die Nachbarn beschweren sich nicht mehr über den ohrenbetäubenden Lärm, den die wunderbare kleine Höllenmaschine verursacht hat. Ich habe deutlich weniger Magenkrämpfe. Das alles fehlt mir. Diese wiederkehrenden Routinen. Die Verlässlichkeit der Ereignisse. Am Schlimmsten ist natürlich der Verzicht auf den Espresso. Es ging wohl ein paar Mal zu oft in den roten Bereich.

Jetzt trinke ich wieder Kaffee aus der French Press oder gar Filterkaffee. Das ist ok, aber mehr nicht. Lasse ich mir was anmerken? Nein, natürlich nicht. Selbstbeherrschung gehört zu meiner Grundausstattung.

Die örtliche Tageszeitung liegt auf meinem Tisch. Das beiliegende Magazin hat den Titel: Neu in Köln? Eine Orientierungshilfe für Immis.

Darin enthalten ist auch ein Stadtplan zum Ausklappen. Mit den U-Bahn und Bushaltehaltestellen. Ich schaue auf den Plan. Dieser könnte wirklich sehr nützlich sein. Für Reisende. Für Menschen von außerhalb. Auch von außerhalb dieses Veedels. Vielleicht kann ich helfen und eine gute Tat vollbringen. Ich drehe mich in die Richtung des Freundinnen-Trios und spreche die empörte Stadtteilreisende sanft  an.

„Entschuldigen sie, ich habe gehört dass sie von sehr weit angereist sind. Vielleicht können Sie dieses Magazin gebrauchen? Da sind viele Tipps für Reisende und Zugewanderte drin.“

Sie schaut mich überrascht an. Ich lege das Magazin lächelnd auf den Tisch, verabschiede mich und erhebe mich schnell.

„Ich wünsche den Damen einen schönen Tag.“

Ein paar Sekunden bleibt es ruhig hinter meinem Rücken. Dann höre ich ein heftiges Lachen von zwei der Damen. Die Reisende lacht nicht. Wahrscheinlich studiert sie schon konzentriert den Stadtplan. Dann kann sie zukünftig viel entspannter reisen. Ihre Freundinnen werden das zu schätzen wissen.