Ich bin ja stark gläubig. Ich glaube an mich und meine Fähigkeiten. Das sind vor allem Kreativität, Demut, Größenwahn und der Glaube, irgendwann den perfekten Espresso zu kreieren. Erschaffen ist toll. Erschaffen mit Koffein ist toll und pulsbeschleunigend.

Kürzlich  musste ich eine schwere Glaubensprüfung bestehen. Meine Siebträgerespressomaschine gab den Geist auf. Der Glaube an die guten Dinge ist für mich auch der morgendliche vierfache Espresso. Davon zwei Stück. Drei an Sonntagen. Vier und mehr an maßlosen Tagen. Fünf und mehr sorgen für Verschiebungen im Verdauungsprozess und schlaflose, aber sehr kreative Nächte. Was wollte ich eigentlich noch sagen? Also, schreiben. Welches Thema, welche These?

Genau: Anscheinend will das Schicksal, dass ich mich verstärkt mit dem Thema „Glauben“ beschäftige. Dafür gibt es mehrere Hinweise. Also mindestens zwei. Nummer eins: Siehe den zweiten Absatz. Nummer zwei: Bitte weiterlesen.

Vor einigen Tagen fuhr ich mit dem Fahrrad und kaum überhöhter Geschwindigkeit durch die Kölner Fußgängerzone. Mitten im Weg tauchte unversehens eine Gruppe Menschen auf, die sich kreisförmig platziert hatte. Offenbar sollte so der Fluss der Fußgänger durch die Fußgängerzone effizient verlangsamt werden. Zu spät erkannte ich das runde Verkehrshindernis in meiner geplanten Fahrspur und  musste bremsen. Und zwar so heftig und knapp vor dem menschlichem Kreis, dass dieser aufbrach und hektisch auseinanderstob.

Ich kam zum Stehen. Leicht erhöhter Puls. Aber okay, nix passiert. Ich zitterte leicht. Das Abbremsmanöver forderte seinen Tribut. Tief ein- und ausatmen.

Die Mitglieder des Kreises traten an mich heran. Es waren so etwa zwei Frauen und vier Männer. Genau weiß ich das nicht mehr. Alle im fortgeschrittenen Alter. Die Männer trugen Ockerfarbene Hemden mit nicht farblich dazu abgestimmten Krawatten und schwitzten darin sichtbar. Ich spreche eine von ihnen an.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich habe ihre Gruppe zu spät erkannt.“

„Junger Mann, sie sind aber sehr stürmisch.“

Der Mann lacht – und  hält mir das jüngste Gericht unter die Nase. Also nicht das Essen, sondern eine Broschüre mit dem Titel: Das jüngste Gericht.

Auf dem Titel ist eine Zeichnung von drei Reitern. Diese haben teilweise Schwerter in der Hand. Ein Comic? Warum sollte eine Gruppe Rentner Comics in der Kölner Fußgängerzone verkaufen? Dann fiel mein Blick auf den eigentlichen Titel der der Broschüre: irgendwas mit Turm und wachen. Den Rest ergänzte mein Gehirn automatisch.

„Der Leuchtturm – das jüngste Gericht? Das jüngst Gericht in Köln? Das macht Sinn. Allein der Bau der Oper… Wird der Dom etwa abgerissen und woanders wieder aufgebaut?“

Der alte Mann ist irritiert, und schaut auf den Titel der Broschüre. Ich habe ihn etwas verunsichert.

„Nein, nein. Es heißt: Der Wachtturm.“

„Der Wachturm? Also wachen statt leuchten? Werben Sie für die JVA in Ossendorf?“

Der Herr ist wieder überrascht und blickt seinen Kollegen fragend an. Der guckt auch verblüfft.

Knast-PR? Da machte es „klick“.

„Ach so. Sie sind die Zeuger Jehovas? Jetzt verstehe ich. Aber ich bin wach. Ziemlich wach sogar nach diesem etwas abruptem Bremsen.“

„Nein, wir sind die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas.“

Er betont Zeugen sehr deutlich.

Das hat mir heute zum Glück noch gefehlt. Ab und zu ein Glas Sekt ist okay, aber ockerfarbene Sekten in der Fußgängerzone? Lieber nicht.

„Zeugen sind wichtig. Auch wenn die Aussagen mehrerer Zeugen zu einem konkreten Vorfall selten übereinstimmend sind. Sie kennen das vielleicht: Die Aufregung, Erinnerungslücken, Verdrängung…“

„Junger Mann, wir müssen alle irgendwann Zeugnis ablegen…“

Er zeigt auf das jüngste Gericht in Heftform. Ich bleibe aber meiner Gesprächslinie treu.

„Ja, teilweise auch unter Eid. Gerade Farben sind da schwierig. Manche würden sagen: Der Mann trägt eine ockerfarbenes Hemd. Andere sagen: Das ist Senffarben bis Auswurfgelb.“

Der Gesichtsausdruck des Herrn verhärtet sich etwas. Er fühlt sich doch nicht etwa verschaukelt? Niemand hat die Absicht, Menschen mit ockerfarbenem Hemd zu verschaukeln.

„Mann, Sie halten hier den ganzen Verkehr auf.“

Sagt ein schwitzender und sichtlich gestresster Paketbote mit einer Sackkarre voller Pakete. Er will vorbei und seinen Job machen. Der Kerl rackert und schnauft. Ich trete einen Schritt zur Seite und weg vom jüngsten Gericht. Das ist die Gelegenheit zur Flucht. Wissen ist mir eh lieber als glauben.

„Danke für das Gespräch. Ich fühle mich frisch und beseelt. Bitte grüßen Sie den obersten Wachhabenden von mir.“

Ich lächle dem Überbringer des jüngsten Gerichtes zu und schon sitze ich wieder auf dem Sattel meines Rades.

Geschmeidig umkreise ich die Fußgänger. Ist das warm heute. Ich glaube, ich werde diesen Tag andächtig mit gut gekühlten Getränken auslaufen lassen. Auf dem Balkon. Da lässt es sich gut im Selbstgespräch über abstrakte Dinge  philosophieren. Den Anfang habe ich ja gerade schon gemacht. Das probiere mal aus.