Es gibt Menschen in meinem Bekanntenkreis, die reden grundsätzlich immer Tacheles. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn man dann nicht gegenhält, wird es etwas einseitig. Am besten ist es, solche Gespräche gleich mal mit einem schönen Reizthema zu starten. Oder Unfug. Oder eine nette Mischung dieser Komponenten. Das wirkt sehr anregend auf den Gesprächsverlauf.

Es wirkt. Sie ist empört.

„Das ist nicht dein Ernst: Du isst abends kurz vor dem Schlafengehen mal eben so 300 Gramm fettiger Nachos? Jeden zweiten Tag? Und rennst vier Mal die Woche ins Fitnessstudio? Findest du das nicht etwas widersprüchlich?“

„Entspann dich. Das ist alles durchgeplant. Dieses Konzept hat einen Namen: Es nennt sich Genussmaximierung bei gleichzeitiger Maximierung des Körperbewusstseins.“

„Ich glaube dir kein Wort. Du verdrängst doch irgendwas mit diesem ambivalenten Verhalten. Das ist doch alles Kompensation für irgendwas anderes.“

„Ich bin gerne ambivalent. Das ist Teil meiner Persönlichkeit. Aber du hast Recht, da ist was Wahres dran. Ja, ich verdränge damit jede Form von Enthaltsamkeit und zeige meinem Umfeld, dass ich nicht gewillt bin, Verzicht aus Gründen des Lifestyles zu üben.“

„Das ist Quatsch! Du machst deinen Körper kaputt. Dein Darm kann den ganzen Mist gar nicht verarbeiten. Weißt du, was du deinem Darm damit antust?“

„Lass mich innehalten und kurz meinen Verdauungstrakt befragen.“

Ich schließe die Augen, murmele sowas wie „Ohmmmm“ und schwenke dabei in der rechten Hand meine Gabel. Eine Stück Octopus ist an der Gabel aufgepießt. Als ich die Augen nach ein paar Sekunden wieder öffne, wirft sie ein Stück geröstetes Brot nach mir und grinst.

„Die Informationen sind eindeutig: Mein Darm funktioniert und geht seiner Betätigung ohne Beschwerden nach. Ach ja, genau: Ich habe die Nachos gestern Abend noch mit Käse überbacken. Ein Blech voller Nachos unter einer Schicht geschmolzenem Käse. Wahrscheinlich war es Analogkäse. Sehr, sehr lecker.“

„Ist Maßlosigkeit nicht eine der Totsünden? Ich finde du solltest deine Tagesration auf mindestens 600 Gramm Nachos erhöhen. Du könntest sonst abnehmen…“

Ich erkenne Ironie. Auch wenn sie nicht von mir kommt.

„Hallo? Einer von uns beiden sitzt seit einer halben Stunde vor einem Salat und einem Glas Leitungswasser und wartet darauf, dass die Blätter verwelken und das Wasser verdampft, damit der Magen schön grummelt und ein paar Gramm eingebildetes Fett verschwinden!“

„Du Sack! Ich habe einfach keinen Hunger! Du hast gerade einen Riesen-Pizza plus Bruschetta verdrückt. Plus Wein.“

„Ja, weil ich Hunger hatte und das Essen hier einfach Lecker ist. Zur Erinnerung: Wir sitzen hier in einem italienischem Restaurant! Der Wein ist übrigens großartig. Fruchtig-elastisch würde ich das Aroma beschreiben. Aber zurück zum Thema. Du hast mir vorhin erzählt, dass du gestern Abend zwei Kurse nacheinander im Fitnessstudio mitgemacht hast und vorher den ganzen Tag bis auf eine halbe Schale Müsli nichts gegessen hast. Was wird denn da so kompensiert?“

„Ich fühle mich sehr gut damit… Etwas Verzicht kann außerdem nicht schaden, verehrter Meister der schriftsprachlichen Ergüsse erster Kajüte.“

„Verzicht beim Essen als Ausgleich für eine 70 Stunden-Woche, O Herrin der endlosen Zahlenkolonnen mit begrenzter Sinnhaftigkeit? Ich verzichte gerade auch auf vieles. Vor allem auf Zucker. Ich esse kaum Süßigkeiten. Soll ungesund sein. Also besser Chips als Zucker. Habe ich irgendwo gelesen. Gut, etwas Zucker im Espresso muss schon sein. Gutes Stichwort übrigens.“

Ich wende mich an den Kellner:

„Herr Ober, bitte einen doppelten Espresso.“

Ich schaue meine genügsame Begleitung an.

„Möchtest du auch etwas, streibare Freundin des gesunden Grünfutters?“

Sie zeigt mir den Mittelfinger, hält dann ihr leeres Rotweinglas hoch und verdeutlicht mit einer netten Geste in Richtung des Kellners, dass das nächste Glas gerne randscharf gefüllt sein darf.

„Immerhin  schmeckt dir der Wein noch.“

„Der ist auch lecker. Das genieße ich auch. So viel zum Thema Verzicht.“

„Was ist eigentlich aus dem Typen geworden, bei dem du letzte Woche zum Essen eingeladen warst?“

„Ich habe ihn mit nach Hause genommen und an meine Küchenzeile gekettet. Falls ich wieder Hunger bekomme.“

„Guter Plan. Ich vermute, dein Kühlschrank ist leer?“

„Nein, für meine Verhältnisse sogar eher gut gefüllt. Ich glaube, ich habe noch zwei Sojajogurts mit Vanillegeschmack, eine Flasche Prosecco und ein Stück Käse. Und ein paar Flaschen Wasser. Und Milch glaube ich auch noch. Aber die ist schon länger offen. Keine Ahnung, ob die noch gut ist.“

„Na, daraus kann der Typ bestimmt was Nettes für euch zaubern.“

„Das will ich für ihn hoffen. Ein drei-Gänge-Menü sollte es schon sein.“

„Das schafft der. Habe ich ja auch gerade geschafft. Ganz locker.“