Jemand der mich nicht kennt und sich zufällig in mein Badezimmer verirrt, muss denken, ich hätte einen Fetisch für Nassrasierer. Ich glaube, in meinem Badezimmerschrank sind mindestens sieben verschiedene Modelle von Nassrasierern an verschiedenen Stellen meist unbewusst verteilt. Hinzu kommt eine noch größere Bandbreite von Ersatzrasierern. Ich wechsele mein aktuelles Rasierer-Modell eher selten. Meistens geschieht dies, wenn keine Ersatzrasierer mehr erhältlich sind. Und das kommt leider öfters vor. Vor zehn Jahren waren Rasierer mit drei Klingen noch State-of-the-art. Heute sind so viele Klingen im Rasierer, dass ich beim Zählen mitschreiben muss um nicht durcheinander zu kommen. Und das liegt nicht an nachlassender Sehschwäche oder arithmetischen Problemen, sondern an der Vielzahl der Klingen. Die rücken nämlich immer näher. Also rücken näher zueinander. Ich meine damit natürlich das Zusammenrücken im Kopf des Rasierers. Man könnte auch sagen, die Klingendichte im Nassrasiererklingenkopf wird stetig verdichtet.

Es geht einfach nichts über eine gute Nassrasur. Der Rasierschaum wird sorgfältig aufgetragen, bekommt eine angemessene Zeit zum Einwirken und dann fährt der in alle Richtungen stufenlos schwenkbare Kopf des Nassrasierers mit seinen mittlerweile bestimmt 75 Klingen über die Haut und entfernt Barthaare, Hautschuppen und alles andere, was sich unvorsichtigerweise im Gesicht aufhält. Dieses Gefühl der Sauberkeit kriegt kein Rasierapparat dieser Welt hin.

Bei meiner ersten Nassrasur habe ich ein einen antiken Rasierer meines Opas benutzt. Dieser bestand komplett aus Metall. Massivem Metall. Wahrscheinlich wurden aus dem gleichen Metall damals auch Eisenbahnbrücken, Kanonen und dergleichen hergestellt. Folglich bewegte sich das Gewicht des Rasierers im einstelligen Kilobereich. Fiel das Ding zu Boden, veränderte sich die Statik des Hauses. Die Rasierklinge, ja es war wirklich nur EINE!, war mit dem Rasierer verschraubt. Beim Wechseln der Klinge war echtes handwerkliches Geschick plus Schraubenzieher und ein damals handelsüblicher Heim-Schneidbrenner vonnöten. Plus ein Verbandskasten für die Nachsorge. Nach der Rasur war die Haut am meinem Hals an mehreren Stellen wegrasiert und die flächendeckende Blutung musste unter erheblichem Zeitdruck gestoppt werden. Aber Bartstoppeln waren keine mehr da. Insofern war der Einstieg in die Nassrasur erfolgreich.

Dann begann die Ära der Nassrasierer mit auswechselbarem Klingenkopf. Drei dieser Rasierer stehen im untersten Fach meines Badezimmerschranks. Der Verfärbung des Plastiks nach müsste das älteste dieser Modelle etwa zehn Jahre alt sein. Es hat fünf Klingen, die auch noch in unterschiedlichen  Abständen zueinander stehen. Und der Klingenkopf bewegt sich nur widerwillig. Er weigert sich, sich an die Konturen des Kopfes anzupassen um ein geschmeidiges Gleiten zu ermöglichen. Diese Klingen gleiten nicht, diese Klingen rasieren. Und zwar werden alle Unebenheiten kompromisslos wegrasiert. Das hat schon was sozialistisch-planierendes.

Ich erinnere mich dunkel daran, dass in der Gebrauchsanleitung damals stand, dass man das Schaf beim Scheren mit mindestens drei Personen festhalten sollte, um ein Abgleiten der Klingen und den Verlust von wertvoller Wolle zu minimieren. Erst im letzten Absatz ging der Hersteller auf den Gebrauch des scharfen Gerätes beim Menschen ein. Man könne sich damit gut rasieren und bräuchte auch keinen neumodischen Kram wie Rasierschaum dafür. Das ginge auch so. Die Haut würde nach dem Rasiervorgang zwar etwas spannen und zum Reissen aus Gründen der Sprödigkeit neigen. Dies würde sich aber nach wenigen Monaten von alleine wieder geben. Am besten sei es, sich in dieser Zeit einen Bart wachsen zu lassen. Das sehe auch viel männlich-herber aus. In dieser Zeit könne der Rasierer auch gut zum Schnitzen von leichten bis mittelfesten Holzsorten genutzt werden. Andere Zeiten, andere Rasierer.

Meine beiden neueren Modelle haben, nun  ja, viele Klingen und gleiten sehr geschmeidig. Dieses sanfte, kaum fühlbare überdieHauthinwegfliegen nimmt dem Rasiervorgang dieses archaisch-männliche. Und genau bei diesen Modellen wird der Nachschub an Ersatzklingen im Einzelhandel immer wieder spontan auf null reduziert. Dann greift man doch gern wieder zu einem alten Modell oder wagt die Anschaffung eines weiteren, bisher unbekannten Typs. Der natürlich auch nach ein paar Monaten aus dem Sortiment des Einzelhandels verschwindet und einem neuen Modell mit einem Griff in der Form eines Schlagrings oder Halbmondes Platz macht. Da stehen die Klingen immer unter Spannung und summen beim Rasieren ganz leicht.

Kürzlich habe ich mir aus Neugierde Rasieröl besorgt. Ein paar Tropfen davon mit den Händen im Gesicht verteilt und schon fliegen die Klingen über die Haut. Die Rasur gelingt wie geschmiert. Danach müssen Hände und Gesicht sorgfältig mit Seife von den Restölbeständen gereinigt werden. Im Badezimmer riecht es dann ein bisschen nach Autowerkstatt oder Dampflokmuseum. Das hat fast etwas Nostalgisches. Angeblich kann man das Rasieröl auch zum Braten benutzen. Auf der Rückseite der Verpackung ist ein Bild zu sehen, welches eine in Schutzkleidung gekleidete Person mit einem Dampfstrahler in der Hand zeigt, die damit eine Pfanne reinigt. Offenbar haften die Rückstände des Öls besonders gut auf metallischen Oberflächen.

Ein besonderer Genuss ist eine Nassrasur beim türkischen Friseur nebenan. Diese Mädels und Jungs haben es einfach drauf. Das Gesicht wird flächendeckend mit Rasierschaum bedeckt, eine frische Klinge in das Rasiermesser eingelegt und dann wird porentief rasiert. Gründlicher geht es nicht. Eventuelle Blutungen werden durch das Aufsprühen einer grüne-rosa Flüssigkeit sofort gestoppt. Die Wunde dampft einen Moment und schon ist die Haut wie neu. Danach stehen einem die Tränen in den Augen, aber Bartstoppeln trauen sich auf absehbare Zeit nicht mehr an die Oberfläche.