„Wie meinst du das? Grüppchenbildung? Hier? Das ist doch eine ganz normale Party.“

„Klar, dass ist so ähnlich wie bei einer Wahl. Du guckst dir die Leute an, betrachtest ihr Umfeld und schon kannst du ungefähr ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe abschätzen.“

Genau. Partys sind für jeden Statistiker und Marktforscher eine Wohltat. Auch ohne persönliche Beziehung zu einem der Partygäste lassen sich durch geduldige Beobachtung recht schnell Rückschlüsse auf die sozialen Gruppen, ihre Motivation hier zu sein und ihre Vorlieben für bestimmte Getränke und Partnerschaften ableiten.

„Schau mal unauffällig in die Runde. In diesem Raum gibt es eindeutig ein paar klar voneinander abzugrenzende Gruppen.“

Sie blickt in das Wohnzimmer. Menschen stehen dicht gedrängt zusammen, reden, lachen, trinken. Scheinbar ohne innere Ordnung.

„Da! Hinten links, vor der dunkelbraunen Schrankwand. Das ist Gruppe 1. Gruppe 1 ist die Gruppe der Party-Neulinge. Sie kennen die Gastgeberin der Party nur indirekt über eine Freundin und fühlen sich etwas unsicher in diesem für sie unbekannten Umfeld. Sie reden über allgemeinen Kram wie Job, Urlaub und Karneval. Und sie tun dies merklich leiser als alle anderen Gruppen. Bloß nicht auffallen! Hier wird Bier aus der Flasche und Weißwein aus Rotweingläsern getrunken. Der Kleidungsstil ist funktional. Die Frisuren ebenfalls. Der Altersschnitt liegt zwischen 30 bis 35 Jahren.“

Mein Blick wandert durch den Raum. Da ist eine Sitzgruppe. Jeder Platz ist besetzt.

„Schau mal da, auf den Sofas rechts. Gruppe 2. Gruppe 2 sind verheiratete Männer und Frauen mit und ohne Kinder. Sie nutzen diesen Abend, um mal wieder richtig abzufeiern und sich mit Gleichgesinnten über Erziehungsprobleme und Teilzeitjobs unterhalten. Dazu wird Bier gekippt oder ab und zu am Wein genippt. Der Kleidungsstil ist rustikal-leger. Ab und zu entgleisen die Gesichtszüge, wenn die anwesende Tochter oder der Sohn einen Teil der Inneneinrichtung demoliert oder einer neuen Verwendung zuführt. Dann werden die verhaltensproblematischen Übeltäter zischend zur Ordnung gerufen. Und dann wird Abbitte bei der Gastgeberin für den Sachschaden geleistet.“

Diese nimmt übrigens die durch Kinderhand herbeigeführten Veränderungen in ihrer Wohnung stoisch zur Kenntnis  und verschwindet schnell mit entnervtem Gesichtsausdruck für eine weitere Zigarette und ein weiteres Glas Weißwein auf den Balkon.

„Oh, oh. Da hinten. Ganz kritisch! Gruppe 3 ist die Gruppe der Prosecco- und Weißweintrinkerinnen. Mit Single-Status. Sie  halten Männer im Allgemeinen für völlig kommunikationsunfähig. Und beziehungsunfähig. Und ihre Ex-Typen im Speziellen für den letzten Dreck der Menschheit. Zur Bekräftigung dieser These lesen sie sich gegenseitig den Messenger-Verkehr mit besagten Ex-Männern vor. Hör mal.“

Ein paar Flüche dringen von Gruppe 3 an unsere Ohren. Die wesentlichen Aussagen sind in etwa Der Typ ist so scheiße/Er hat einfach nicht mehr angerufen!/ Wie Arschig kann man sein? Ein sehr dominantes Mitglied der Gruppe knallt ihr Weinglas empört auf den Tisch vor ihr. Das Klirren lässt für einen Moment die Gespräche im Raum verstummen. Ein Kind erschrickt und beginnt zu weinen. Mehrere Augenpaare blicken genervt auf Gruppe 3.

„Sie halten ihre Gläser in Bauch- oder Brusthöhe und schimpfen lautstark über ihre letzten Dates. Und diese Details: Von sechs Mitgliedern dieser Gruppe haben fünf sehr ähnlich aussehende schwarze Schuhe an. Mittelhohe Absätze verraten die innere Zerrissenheit zwischen Abfeiern und  Heulkrampf. Die Sechste hat weiße Turnschuhe mit Füßlingen an und muss folglich am äußersten Rand der Gruppe stehen. Enge, dunkle Hosen umschliessen die durch Spinning und High heels trainierten Beine. Sie reagieren auf Versuche von Nicht-Singles mit Gruppenmitgliedern in Kontakt zu treten, abweisend bis unwirsch.“

Ich bitte mein Unwissen bei der Benennung des exakten Typs der Damenschuhe zu entschuldigen. Ich kann durchaus High Heels von Wanderschuhen unterscheiden, bin aber nicht in der Lage die unzähligen Arten von Sneakern, Stoffschuhen oder sonstigen Freizeitschuhen einzuordnen…

„Du hast Recht. Die sehen ja wirklich ziemlich gleich aus. Die mit den weißen Turnschuhen wird ja regelrecht ausgegrenzt.“

„Tja, wenn der stillschweigend festgelegte Dresscode nicht eingehalten wird, gibt es sofort Maßnahmen gegen den Nestbeschmutzer. Unvorteilhafte Bilder bei Facebook, Verstoß aus der WhatsApp-Ausgehgruppe, lauwarmer Prosecco…“

Jetzt erfahre ich was Neues.

„Gruppe 3 trägt, bis auf die Turnschuhfrau, schon komplett Winterschuhe.“

Aha. Da hake ich gleich mal ein.

„Ja, das ist ein Zeichen für den kollektiv empfundenen Kälteeinbruch seit dem offiziellen Herbstanfang.“

Meine Begleitung schaut mich an. Und grinst überlegen.

„Du bist Gruppe vier.“

„Ich? Wieso?“

„Mitglieder der Gruppe vier dezimieren erst gezielt das Buffet, springen dann von Gruppe zu Gruppe, bringen dort das Gefüge durcheinander und wehren sich gegen jede Vereinnahmung in eine existierende Gruppe. Indem sie unvermittelt überall und nirgends auftauchen. Manchmal auch gleichzeitig. Und bei deinen Klamotten weiß man nicht, ob das noch Freizeitlook oder schon Trendverweigerung ist.“

Ich tue empört. Bloß den Eindruck vermeiden, dass ich mich ertappt fühle.

„Das kann ich so nicht gelten lassen. Eine Person ist doch noch keine Gruppe. Selbst wenn diese Person so viel konsumiert wie eine Gruppe. Obwohl… Wer nicht gruppentauglich ist, ist zwangsläufig seine eigene Gruppe. Punkt für dich.“