Bei Lesungen lese ich hin und wieder einzelne Wörter aus dem Text zu schnell. Deutlich schneller als den restlichen Text. Oder ich betone bestimmte Wörter, obwohl dies aus dem Zusammenhang des Textes heraus betrachtet nicht angebracht wäre. Dafür ernte ich dann verwirrte Blicke vom Publikum. Manche sind sogar erschrocken und applaudieren spontan. Vermutlich weil sie meinen, gerade eine bedeutsame Pointe der Geschichte verhört zu haben.

Die zwischenmenschliche Kommunikation ist eine sehr diffizile Sache. Heutzutage wird jedes Wort interpretiert. Gerade bei schriftlicher Kommunikation über einen Messenger oder per E-Mail. Das merke ich auch bei mir. Da schreibt jemand konsequent seine Mitteilungen ausschließlich in Kleinbuchstaben und sofort denke ich: Rechtschreibschwäche? Deutet die fehlende Großschreibung auf mangelndes Selbstbewusstsein hin? Ist die Feststelltaste verhakt? Ist das der ungeplant versandte Entwurf einer eigentlich für später geplanten Nachricht? Einer Nachricht, die vielleicht sogar nicht für mich bestimmt war? Wird die Nachricht gar an mehrere Personen gleichzeitig verschickt!?

So steuert der immer online befindliche Teil der Menschheit in unseren Breiten unweigerlich in Richtung Paranoia. Da freuen sich die Soziologen und Therapeuten.

Am besten ist immer noch die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Missverständnisse werden so vermieden. Größtenteils zumindest. Wobei es auch da  zu interessanten Sender-/Empfänger-Störungen kommen kann. Diese Störungen scheinen ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten zu unterliegen. Sage ich beispielsweise zu einer Frau mit teilnahmslos gelangweiltem Ton:

„Du hast da was in deinem Haar“

kommt bei ihr im Regelfall die Botschaft an:

„Du hast eine Spinne im Haar“.

Der Effekt ist natürlich dramatisch: Sie beginnt zu kreischen, schreit

„Mach das WEG!!“,

wirft ihren Kopf panisch hin und her, um so das vermeintlich vorhandene Krabbeltier loszuwerden, rauft sich die Haare und bricht in Tränen aus.

Das ist alles nicht so schlimm, wenn sich dieses Gespräch in den heimischen vier Wänden abspielt. Dann beruhige ich mein Gegenüber und tue so, als ob ich ein widerspenstiges Lebewesen aus ihrem Haar picke und dieses in meiner Hand unter großem Kraftaufwand am Flüchten hindere. Dann verschwinde ich kurz im Bad, löse die Toilettenspülung aus, wasche mir etwa 10 Minuten bei maximal aufgedrehtem Wasserhahn die Hände und komme lässig spazierend wieder zu dem hilflosen Objekt des Kleintierangriffes zurück. Durch verheulte Augen hindurch werde ich dankbar angeschaut und meine unbedachte Bemerkung gerät schnell in Vergessenheit.

Ganz anders ist die Situation, wenn die Handlung in die U-Bahn verlegt wird. Sagen wir, es ist Samstag Nacht, Linie 12 in Richtung Kölner Norden, irgendwie sowas. Die Party war gut, ich bin müde, meine Augen blicken umher.

Da ist etwas. In ihrem Haar. Vielleicht war es nur ein roter Lichtschein von der Werbung am Bahnsteig gegenüber. Vielleicht bilde ich mir was ein. Vielleicht hat sich da wirklich gerade was bewegt. Etwas was da nicht hingehört.

Ich höre mich den Satz sagen:

„Du hast da was in deinem Haar.“

Die junge Frau, die vor einer Sekunde noch mit geschlossenen Augen an der Wand des Fahrkartenautomaten lehnte und ab und zu schnarchige Laute von sich gab, ist jetzt wach. Sofort. Und mit wach meine ich wirklich WACH!

Der Effekt ist, der aufmerksame Leser ahnt es, dramatisch. Äußerst dramatisch. Nachdem sie ihre Lungen maximal mit dem in diesem U-Bahnwaggon verfügbaren Restsauerstoff befüllt hat, beginnt sie zu schreien. Sie schreit mich sehr zielgerichtet an. Sie schreit nicht „Mach das WEG!!“ sondern:

MACH ! ES! WEG!“

Unausgesprochen bleibt dabei der laut gedachte Zusatz: SOFORT!!

Parallel zu der Kreisch- und Schreiattacke wirft sie ihren Kopf panisch hin und her, rauft sich die Haare und schluchzt. Stimme, Körper und Ausdruck werden zu einem Gesamtkunstwerk des Entsetzens im Angesicht einer existentiellen Bedrohung.

Sofort hat sie  – und ich, als einziger in ihrer unmittelbaren Umgebung verweilender Fahrgast, die gesamte Aufmerksamkeit der restlichen Passagiere in diesem Waggon. Die umstehenden Passagiere mustern erst sie und dann mich. Unauffällig werden per Handy Filme und Fotos angefertigt, um den vermeintlichen Amoklauf in der U-Bahn festzuhalten. Die Blicke der Umstehenden tasten mich auffällig unauffällig ab. Ich lehne mich etwas zurück, greife eine Halteschlaufe und blicke betont gelangweilt auf das Display meines Schlauphones. Ich fühle das Glotzen und ahne die Gedanken der umstehenden Personen.

„Was hat der Typ der netten Frau wohl perverses ins Ohr geflüstert?“

„Wieso zickt die Frau hier so rum? So schlimm sehen ihre Haare doch gar nicht aus.“

„Bestimmt hat er Schluss mit ihr gemacht.“

„Ob sie gerade auf Entzug ist? Und er ist ihr Betreuer?“

Fortsetzung folgt. In Kürze. Also bald wieder auf www.entdeckerunterwegs.de vorbeischauen.