„Guten Tag junger Mann, ist der Stuhl hier frei?“
„Ja, bitte sehr.“
Die ältere Dame setzt sich auf den Stuhl neben mir. Das Wartezimmer des Arztes ist jetzt bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft ist zum Schneiden, die Stimmung schwankt zwischen Ärger und Resignation. Ein Mann Mitte dreißig mit Gipsbein öffnet sein fünftes Dosenbier. Eine junge Frau mit Zahnspange und beidseitig geschienten Handyfingerfrakturen ist eingedöst und schnarcht den wartenden Patienten etwas vor. Alltag in deutschen Wartezimmern.
Wartezimmer sind für mich eine Spiegelbild der Persönlichkeit des behandelnden Arztes oder der Ärztin. Deshalb möchte ich hier meine Wartezimmer-Erfahrungen wiedergeben. Der ausführliche Test wird in der brandneuen Studie Das medizinische Wartezimmer, eine Studie der Stiftung Medizin und bewusstes Warten auf Heilung, am 23. Dezember erscheinen. 2.356 Seiten für nur 95 €, Wartesaal Verlag Köln.
Beim Orthopäden in der Südstadt sind die Zeitschriften mindestens ein halbes Jahr alt und total abgegriffen. Die Spielecke für die Kinder mit dem Teppich, der eine lustige Stadt voller glücklicher Menschen zeigt, ist vermutlich noch nie in Kontakt mit Reinigungsmitteln oder einen Staubsauger gekommen. Ich vermute Kinder werden in dieser Praxis ihre orthopädischen Probleme los, lernen dafür aber ein paar ganz tolle neue Freunde aus dem unendlichen Universum der Bakterien kennen. Immerhin gibt es was zu trinken in Form einer Flasche Sprudel. Allerdings sind keine unbenutzten Gläser mehr vorhanden. An der Wand hängen Poster, auf denen die Krankenkassen der gezielten Missachtung der Interessen der Patienten beschuldigt werden. Die Wartezeiten schwanken bei den Kassenpatienten zwischen 45 Minuten und zweieinhalb Ewigkeiten. Patienten, die am Freitag um 19 Uhr immer noch auf Behandlung warten, werden ohne Aufpreis auf die Straße befördert.
Etwas freundlicher sieht es beim Zahnarzt aus. Im weiß gestrichenen, sehr hellen Wartezimmer sind sparsam ein paar Bilder verteilt, die auch ein Nicht-Fachmann als Kunst einordnen würde. Nicht weil sie künstlerisch wertvoll wären, sondern weil sie hier hängen. Die hohe Decke und Zeitschriften wie Weltkunst für Kunstsammler-Frischlinge und Bunter– das Promi-Klatsch Magazin für angehende Prothesenträger sorgen für literarische Abwechslung. Die ausgeglichen wirkenden Patienten spielen mit dem Handy, lesen oder flirten mit den osteuropäischen Zahnarzthelferinnen. An der Wand hängen Poster, auf denen die Krankenkassen der gezielten Missachtung der Interessen der Patienten beschuldigt werden. Der Weißwein ist gut, allerdings mindestens fünf Grad zu kühl serviert. Was sich durch ein deutliches ziehen an den Weisheitszähnen unangenehm bemerkbar macht. Die Lachsschnittchen schmecken deutlich nach Tiefkühlung. Dafür entschädigen die leckeren Erdnuss-Schoko-Berge und die milde Zigarre der Marke Smelly Tobacco. Zahnbürste und Zahnpasta vor der Behandlung werden gestellt, allerdings schmeckt die Pasta zu stark nach Olivenöl. Klassische perlt Musik aus den Boxen. Der Zahnarzt summt bei der Behandlung im Nachbarzimmer zur Beruhigung der Patienten gerne die Overtüren mit.
Ganz großartig ist das Wartezimmer in der Abteilung für Blutspenden eines Krankenhauses in der Kölner Innenstadt. Jedenfalls in der Vorweihnachtszeit. Eine große und gute Auswahl an belegten Broten und Lebkuchen liegt bereit für die Spender. Das Publikum ist jung und sehr gut gelaunt. Grund dafür ist der junge Mann, der regelmäßig einen großen Bottich mit heißem Glühwein umrührt und die Spender nach der Blutspende zügig mit dem heißen Wintergetränk versorgt. Gerne auch mehr als einmal. Allerdings darf man im Wartezimmer nur in Zimmerlaustärke singen, weil das Fachpersonal im Blutspenderaum sonst das Zähneklappern der Spender nicht mehr gut hören kann. Und die Abgabe von mehr als 12 Lebkuchen pro Person ist nicht erlaubt. Dafür wankt der gut gewärmte Spender dann sehr zufrieden aus dem Warte- und Regenerationszimmer zur nächsten Haltestelle der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe.
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