Der heutige Sonntag begann wie der gestrige Samstag geendet hat: Mit frischen Zahnpastaflecken auf dem Pulli. Mir wird nachgesagt, ich würde meine Zähne sehr energisch putzen. Leider führt dieser energische Reinigungsvorgang in Verbindung mit der oft anwesenden Schwerkraft und mangelnder Achtsamkeit zu diesen weißen Blickfängern auf ansonsten makellos sauberen Kleidungsstücken. Da mir dies nicht immer bewusst ist, werde ich gerne darauf angesprochen. So entstehen beliebte Gesprächsthemen, die mit der Regelmäßigkeit von Geburtstagen, dem Verlangen nach körperlicher Zuwendung oder dem Heißhunger auf Süßes auftreten.
Interessant ist für mich, dass ich gefragt werde ob ich absichtlich meine Kleidung mit diesen unregelmäßig geformten Flecken verziere. Natürlich wäre es leicht dies einfach zu bejahen. Das ist mir aber zu einfach. Stattdessen variiere ich lieber meine Antworten. Hier ist eine beschauliche Auswahl:
- „Ich bitte dich… Das ist doch offensichtlich.“
- „Natürlich ist das Absicht. Es handelt sich aber nicht um Zahnpasta.“ Zwinker.
- „Weiße Flecken auf dem Pulli? Ist mir gar nicht aufgefallen. Komisch, das Ketchup, die Mayo und die Flecken vom Saté sieht man gar nicht.“
- „Das ist ein Statement. Ich werde diesen wunderbaren Pulli doch nicht wegen ein paar kleinen Flecken einfach in die Waschmaschine stecken und die Umwelt über Gebühr belasten.“
Übrigens werde ich nur auf Zahnpastaflecken angesprochen. Größere Rückstände von Puderzucker, ungefähr in der Größe DIN A 4, auf meiner dunkelblauen Jacke werden nur stumm zur Kenntnis genommen, dienen aber nicht als Ausgangspunkt für Fragen oder gar abendfüllende Gespräche. Wahrscheinlich rieche ich so stark nach Plätzchenbacken und Konditorei, sodass dieser optische Mangel gerne hingenommen wurde.
Jetzt fällt mir gerade wieder ein, worüber ich heute eigentlich schreiben wollte. Nämlich über Achtsamkeit. Achtsamkeit ist wichtig und groß und darüber hinaus gerade ein absolutes Modethema. Hin und wieder schmökere ich in den großzügig aufgemachten Fachzeitschriften zu diesem Thema. Und spüre dann ob der reichhaltigen Verwendung von Farben, großen Schriftgrößen, plus der stetigen Wiederholung der Kernaussagen zum Leben im Jetzt, den Achtsamkeitsübungen und dem reichhaltigen, meist nur per Versand erhältlichen Produkten zur Unterstützung und Steigerung der Achtsamkeit in diesen Magazinen, das Gefühl einer tiefen Zufriedenheit. Weil ich das alles nicht brauche. Das Glas Wein bei dieser Lektüre aber schon.
Jetzt und hier sitze ich am Schreibtisch, schreibe diesen Text und blicke oft durch das Fenster auf ein wunderbares Schneegestöber. Ich lebe im Jetzt ohne den rechten Zugang zu diesem Thema gedanklich wirklich gefunden zu haben. Ich bin einfach zufrieden und etwas müde. Zufrieden, weil ein neues Buch fertig ist und müde, weil die letzten Wochen sehr ungemütlich waren und die belgischen Biere gestern Abend gemeinschaftlich mit den frittierten Kohlenhydraten ein Gefühl des Wohlbefindens in mir ausgelöst haben. Als überzeugter Masochist bin ich heute Morgen auf die Waage gestiegen und habe die Anzeige achtsam zur Kenntnis genommen. Dieser Zustand und die Schockwirkung hielten ungefähr vier Sekunden an. Dann ging ich zum Bäcker. Der Frühstückstisch wollte mit frischem Backwerk angereichert werden.
Eine rotbäckige Bäckersfrau lächelt mich an.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, haben Sie Laugenstangen ohne Salz?“
„Nein, die sind leider aus.“
Ihr Blick fällt auf die weißen Flecken auf dem Pulli.
„Gut, dann nehme ich zwei.“
„Gerne…, äh, wir haben wirklich keine Laugenstangen mehr.“
Die weiterhin gutgelaunte Bäckersfrau zuckt mit den Schultern. Ich tue so, als ob ich leise mit den weißen Zahnpastaflecken spreche.
„Dann nehme ich ein Croissant.“
„Ein Croissant mit Schokolade?“
Ich neige den Kopf in Richtung der Flecken, tuschele leise und nicke dann verstehend.
„Nein. Ein Croissant entspricht drei Brötchen. Mit Schokolade wären es schon fünf Brötchen. Deshalb nehme ich die drei Brötchen plus ein Croissant pur extra.“
Die Bäckerfrau reicht mir die Tüte herüber und blickt auf die Flecken.
„Haben Sie da ein Mikrophon im Pulli?“
„Das hier? Diese hellen Stellen? Nein, es handelt sich bei diesen reinweißen Flecken um sehr seltene und gleichzeitig hocheffektive Achtsamkeitsverstärker.“
Sie nickt.
„Aha. Einen schönen zweiten Advent wünsche ich Ihnen.“
„Vielen Dank. Ihnen auch.“
Das Frühstück habe ich sehr genossen. Solche Flecken kann man übrigens mit Augen Make-up Entferner entfernen. Das Zeug kann aber das Material des Pullis angreifen. Habe ich gelesen. Diesen speziellen Entferner habe ich auch gerade nicht da. Wäre auch schade um die ganze Achtsamkeitswirkung. Ihr wisst ja: Zuviel Achtsamkeit mindert die Lebensqualität. Damit meine nicht zu viel sondern wirklich Zuviel. Das ist ein Unterschied. Der wird jedem achtsamen Menschen auffallen.
Ich wünsche euch einen schönen zweiten Advent.
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