„Die sind aber bunt.“

„Was meinst du?“

„Schau mal unauffällig da rüber.“

Am Tisch rechts quer hinter ihr sitzen zwei ältere Herren. Sie unterhalten sich angeregt. In dieser Lokalität fallen sie auf. Beide tragen Pullis, die vermutlich die Trendfarben dieses Jahres  vorwegnehmen. Der eine Pulli ist in hellem Lila, der andere in Orange. Beide sind gut beleibt was auf eine gewisse Genussorientierung schließen lässt. Damit sind sie eindeutig optisch der farbliche Schwerpunkt in diesem engen und lauten Pizzaladen. Rundherum trinkt alles zuckrige Cola, fuseligen Wein oder gasiges Wasser. Der Herr in orange hat einen eindrucksvollen Becher Filterkaffee in der Hand. Der Herr in lila ist gar ohne Getränk. Sie wirken zufrieden, so wie sie vor ihren leeren Tellern dasitzen und sich unterhalten.

Das Kontrastprogramm sitzt direkt daneben. An einem der Nachbartische des bunten Duos sitzt eine Gruppe jugendlicher Frauen. Drei schwarzhaarige Frauen, alle komplett in schwarz. Enge Jeans bis zum Bauchnabel, keine Socken, leichte Stoffschuhe und dazu Shirts und Jeansjacken. Alles in schwarz. Und nicht gerade wärmend. Aktuell sind Minusgrade in Köln. Zwei tragen großformatige Brillen mit Goldrand. Alle drei sind heftig geschminkt. Schwarze Balken statt Augenbrauen, dunkelbrauner Lippenstift und dazu hellbraunes, komplett deckendes Gesichts-Make-up. Jedwede Gesichtsmimik wird durch die Schminke unterbunden. Vielleicht wärmt das flächendeckende Make-up so sehr, dass wärmende Kleidung überflüssig wird? Blitzen weiße Zähne auf, könnte es sich um ein Lächeln handeln. Das scheint momentan das allgemeingültige Erscheinungsbild für diese Altersklasse zu sein.

Stopp! Nicht schon wieder dieses Thema. Sonst kommen wieder empörte Mails mit Vorwürfen wie dem, ich hätte etwas gegen jedwedes Make-up oder sonstige Verschönerungsmaßnahmen bei Frauen. Dem ist nicht so.

Ich denke laut:

„Das ist optisch ein schöner Kontrast. Orange-lila zu schwarz-hellbraun.“

Meine Begleitung bemerkt meinen Blick und bringt meine Gedanken auf den Punkt:

„Lass mich raten. Nein, nicht raten. Ich weiß, was du denkst: Du siehst drei junge Frauen im schminkfähigen Alter mit abscheulichen großformatigen Goldrand-Brillen plus aufgeklebten Fingernägeln.“

„Richtig.“

Stimmt, die aufgeklebten Krallen habe ich ganz vergessen. Sind natürlich auch schwarz.

„Die habe ich beim reinkommen gesehen. Und alle drei trinken Cola light.“

Sie hat recht. Noch eine Übereinstimmung. Der ältere Herr in orange trägt übrigens auch eine Brille mit Goldrand. Seine Brille könnte aus den Achtzigern oder frühen Neunzigern sein. Seine Haut ist auch gebräunt, vermutlich ist das aber der Sonneneinstrahlung zu verdanken. Ich glaube Mode, Trends und Style sind ihm egal. Er wirkt authentisch.

Ich blicke mich weiter um. Der Laden wird vorwiegend von eher jungen Menschen Anfang zwanzig frequentiert. Dabei fällt auf, dass der üppige Vollbart anscheinend langsam vom Oberlippenbart abgelöst wird. Männer tragen eher Brillen in Rundform plus Oberlippenbart plus Kopfsocke. Frauen eher großformatige ovale Brillen mit Goldrand auf dem mit mattierender Schminke versehenem Nasenrücken. Die Achtziger erheben wieder ihr abscheuliches Haupt. Allerdings noch ohne Föhnfrisuren und Schulterpolstern. Das kommt aber bestimmt noch. Die Hungrigen unter Zwanzig Jahren in diesem Raum fotografieren ihr Essen und posten erst mal eine Statusmeldung dazu. Wahrscheinlich Yummy oder was ähnliches. Dann erst, nach den ersten Likes, schneiden Sie die erkaltete Pizza an. Da bin ich ja anders. Sobald die Teller mit der Pizza unseren Tisch berührt haben, widme ich mich dem leckeren Teigling mit Fisch-, Käse- und Gemüsebewurf. Erst als das Überleben dank schneller und  ja auch etwas unachtsamer Nahrungsaufnahme gesichert ist, nimmt unser Gespräch wieder Fahrt auf.

„Ich will weg davon Menschen zu bewerten. Ich möchte sie annehmen können, so wie sie sind. Das gelingt mir aber nicht. Warum kann ich abscheulich geschminkte Frauen nicht einfach zur Kenntnis nehmen und gut ist?“

„Naja, das ist wie Kinder und Spinat. Das geht nicht zusammen. Weil der Ekelfaktor deutlich zu groß ist.“

„Aber heute esse ich gern Spinat.“

„Moment. Du schüttest so viel Erdnuss-Sesamsauce auf den Spinat bis er verschwindet und kaum noch schmeckbar ist.“

„Du meinst, das ist wie schminken? Aber mit Erdnuss-Sesamsauce statt Puder und Creme?“

Sie runzelt die Stirn.

„Hm, vielleicht. So in etwa. Das geht gedanklich aber um mindestens vier Ecken. Es könnte aber unter Umständen sein, dass wir das Gleiche meinen. Ansatzweise. Die Mädels müssen sich halt schminken um ihre Persönlichkeit auszudrücken oder zu entwickeln.“

„Dann bin ich Retro. Ich orientiere mich eher an der Vergangenheit. Seit Wochen höre ich jede Menge Prog-Rock. Yes und so was. Lange Stücke, viele Soli. Darauf zu tanzen ist nicht leicht…“

Jetzt wird es etwas munter. Die bunten Herren wollen aufbrechen. Sie ziehen dicke Fellwintermäntel an. Und dafür brauchen sie Platz. Und den nehmen sie sich ganz selbstverständlich, indem sie stehend und mit Schwung die Mäntel anziehen. Der Saum eines gut abgehangenen Biberfellmantels streift die erkaltete Oberfläche einer Pizza mit Artischocken und Meeresfrüchten ungeklärten Verfallsdatums. Die schwarzen Mädels blicken empört auf die raumgreifenden Unruhestifter, weichen zurück und umklammern ihre Handys. Nicht das der Biber diese noch wegschnappt.

Pause. Nein, so geht das nicht. Die Geschichte geht in die völlig falsche Richtung. Ich muss weg von dem Bild mit den schlimm geschminkten Tussis. Also anders.

Ich stelle mir drei schwarze Kätzchen vor, die abwechselnd in den spiegelnden Boden ihres Fressnapfes blicken und sich darum streiten, wer das am Schönsten geföhnte und gekämmte schwarze Fell hat. Und wer am dämlichsten miaut. Da kommt eine riesige Dogge mit orangem Fell vorbei, stößt den Napf mit der rechten Vorderpfote im Vorbeigehen um und würdigt die Kätzchen keines Blickes. Die Kätzchen gucken kollektiv doof aus der Wäsche und stellen vorübergehend das miauen ein.

Das ist besser. Das ist irgendwie neutraler.

Die bunten Herren sehen mit den Fellmänteln ein bisschen aus wie die gealterte Ausgabe von zwielichtigen Typen aus einem Bond-Film in den Siebzigern. Ein Wintersportort in den Alpen, Sportwagen mit Winterreifen und Schleudersitzen, Blofeld streichelt seine weiße Katze bis deren Fell komplett runter ist und so was.

Sie bewegen sich langsam aber stetig durch das Getümmel. Ihre Leibesfülle lässt alle am Gang sitzenden Menschen zurückweichen. Vielleicht riechen die Mäntel auch einfach nur streng. Keine Ahnung, ich habe Schnupfen. Sie zwängen sich nicht etwa zwischen den Tischen hindurch, sie schieben sie im Vorbeigehen einfach beiseite. Ganz selbstverständlich. Wie Eisbrecher. Ihr Blick ist auf den Ausgang gerichtet. Ein Blick davon, der der Dogge, ist durch eine Brille mit Goldrand geschärft. Die Kellner gehen nicht einfach beiseite, sondern stellen sich seitlich an die Wand und ziehen den Bauch ein. Damit sie nicht mit nach draußen gedrängt werden. Und damit sie nicht doch angebellt werden.