Blauer Himmel. Kein Lüftchen. Das sind doch gute Voraussetzungen für einen Flug ohne Interferenzen. Dann kann man mal von oben auf die Dinge schauen.

Ich sitze direkt am Gang auf der linken Seite. Die beiden Plätze links von mir sind leer. Es ist angenehm ruhig im Flieger. Der ist nur gut zur Hälfte mit Passagieren gefüllt. Diese gedämpfte Ruhe ist ungewöhnlich. Kaum jemand spricht. Ist das Katerstimmung? Haben die jüngsten weltgeschichtlichen  Ereignisse den Reisenden eine demütige Haltung aufgezwungen? Oder sind viele achtsame oder gar ausgeglichene Menschen an Bord?

Die Fluggetränkeausgabeverantwortlichen verrichten gutgelaunt ihren Job. Bis ich mein Getränk erhalten werde, wird es noch ein paar Minuten dauern. Ich werfe einen Blick in die deutschen Presseerzeugnisse, die ich mir beim Betreten des Flugzeugs von den bereitliegenden Stapeln mitgenommen habe. Die deutsche Presse steht noch kollektiv unter Schock. Der Untergang. Die Schande. Kapitulation. Es geht aber nicht um den andauernden Pflegenotstand oder die anhaltende Leistungsverweigerung der religiösen Splitterparteiminister in der Regierung. Das immer noch alles beherrschende Thema ist das vorzeitige Ausscheiden bei der Fußball-WM. Vorzeitiges Ausscheiden. Diese Formulierung sagt schon alles.  Die deutsche Sprache ist bunt und reichhaltig, aber es muss ja ein schon unzählige Male bemühter Ausdruck genutzt werden. Bestimmt sagt man in 100 Jahren:

„Die deutsche Fußballnationalmannschaft ist nicht zeitig, sondern vorzeitig ausgeschieden. Damals in 2018, als es dem Land wirtschaftlich ganz gut ging und ein paar politische Pflegefälle unbedingt sinnlos um sich schlagen mussten, um dem geistig eng betonierten Teil der Bevölkerung zu gefallen.“

Ausscheiden! Wir! Wie konnte das passieren? Das ist eine historische Zäsur. Mindestens. 82 Millionen Menschen wussten und wissen es besser als der Bundestrainer. Aber niemand hat auf sie gehört. Und jetzt diese Katastrophe! Da merkt man, also ich, wie fragil das Selbstbewusstsein dieser Nation ist. Aber ich bin kein Trainer und trage das Haar sommerlich kurz.

Der Getränkeverantwortliche ist nur noch zwei Reihen entfernt. Eine Passagierin auf der rechten Seite, offenbar eine Amerikanerin, fragt ihn auf Amerikanisch nach den Inhaltsstoffen des zum Getränk gereichten Gebäcks. Sie trägt eine große Brille mit runden Gläsern und Goldrand. Das sieht alt aus, ist aber trendy. Sie ist bestimmt noch keine 30, hat aber ein dringendes inhaltsstoffliches Anliegen. Er, der freundliche Flugbegleiter lächelt, zieht ein noch in Klarsichtfolie verpacktes Stück Gebäck aus dem rollenden Fluggetränkeverteilungswagen vor ihm hervor und liest langsam und deutlich die Inhaltsstoffe der Getränkebeilage vor. In gutem Englisch. Das kann er. Und das tut er nicht zum ersten mal. Offenbar hat ihn sein Arbeitgeber im Umgang mit sensiblen, trendbewussten oder auch selbstverliebten Passagieren ausführlich geschult. Die auf Heiß- und Kaltgetränke hoffenden Passagiere, die wie ich in den Reihen hinter der Rundbrillenfrau sitzen, blicken ihn und die Frau verblüfft an. Als er endlich geendet hat, sagt die Frau, sie würde kein Gluten vertragen. Das sei Teufelszeug und würde die Verdauung eines Menschen in kürzester Zeit zerstören. Es ist ein kurzer, sehr bestimmt vorgetragener amerikanischer Vortrag. Der Stewart hört ihr aufmerksam zu, sagt aber nichts. Seine Körpersprache signalisiert Aufmerksamkeit und Zugewandtheit. Er signalisiert weder Ablehnung noch Zustimmung zu dieser sehr negativen Bewertung eines Lebensmittelbestandteils. Oder tarnt er sich mit einer von außen übergestülpten freundlichen Hülle? Früher war mehr Apathie im Fluggewerbe.  Manchmal schlug diese Apathie in Aggression um. Heute ist das anders.

Doch, ich finde dieses Glutenthema wichtig. Die ganzen Arbeitsplätze, die die ganzen glutenfreien Produkte gebracht haben, haben wesentlich zum Wirtschaftsaufschwung beigetragen. Wenn ein widerlicher Fruchtriegel mit hauchdünner Schokohülle mit 34 Gramm Gewicht im Supermarkt knapp zwei Euronen kostet und auch noch gekauft wird, dann muss einfach ein Konsumbedürfnis epischen Ausmaßes vohanden sein.

Aber es ist gleichzeitig auch ermüdend. Gluten wird aufgebauscht. Es gibt einfach wichtigere Themen in diesem Land, die mal ausführlich öffentlich diskutiert werden sollten. Zuerst natürlich der katastrophale Zustand der Nationalelf. Das ist das Allerwichtigste. Ohne funktionierende Regierung kann man leben, aber eine  erfolglose Nationalelf stürzt uns alle unweigerlich in den Abgrund. Auch wichtig: Die immense Haigefahr an den Stränden der deutschen Ostseeküste. Dann: Weißwein oder Prosecco im Aperol Spritz? Und: Die zeitnahe Auswilderung von AfD und CSU-Politikern in gesicherten Freigehegezentren im südlichen Nordafrika. Ohne elektronische Kommunikationsmittel, dafür kriegt jeder einen Besen zum Kehren. Ordnung muss sein. Das sollte wirklich mal ausführlich diskutiert werden.

Der Stewart geht noch einmal die Liste der Zutaten mit der Glutenhasserin durch. Zutat für Zutat. Zucker ist offenbar der dominiernde Bestandteil. Die Reihe der Passagiere vor mir wird unruhig. Sie wollen endlich Kaffee und Alkohol. Wir sind schließlich schon gut 20 Minuten in der Luft. Der Stewart legt der glutenden Amerikanerin das Gebäck auf einem separaten Teller und gibt es ihr. Sie will dazu grünen Tee und einen Weißwein. Das ist eine aparte Mischung, passt aber. Ich stelle mir vor, wie er den Weißwein im Becher per Tauchsieder erhitzt und dann einen Teebeutel reinplumpsen lässt. Und dann darin das Gebäck versenkt. Mit einem fetten schwarzen Stift malt er GLUTEN! und einen süßen kleinen Totenschädel, der eine große Goldrandbrille trägt, auf den Becher. Aber nein, er handelt exakt so, wie es die in Stein gemeißelten Vorschriften der Luftlinie mit dem gerupften Adler als Kennzeichen vorgeben.

Immer diese bösen Gedanken.

„Was möchten Sie gerne trinken?“

fragt mich der Stewart und lächelt ganz entspannt. Du machst es richtig, denke ich mir.

„Ich nehme was mit Gluten, einen Weißwein, keinen Tee und ein Wasser. Mit extra viel Kohlensäure.“

Der Stewart grinst, lacht aber nicht. Das nenne ich professionell.