Es klingelt. Jemand klingelt unten an der Haustür. Für die Müllabfuhr ist es zu früh und für mich ist es entschieden zu früh für Besuch. Vor zwei Minuten habe ich erst den Rasierer aus der Hand genommen und gerade eben das morgendliche Stoßlüften der Wohnung beendet. Die stoßgelüftete Wohnung ist noch etwas unterkühlt und ich fröstele leicht. Ich gehe in den Flur und nehme den Hörer der Gegensprechanlage ab. Damit eröffne ich unvermutet das erste intensive Gespräch des noch jungen Tages.
„Hallo?“
Die Stimme einer gutgelaunten Frau zwitschert mir aus dem Hörer entgegen:
„Guten Morgen, meine Name ist Knapp. Schön, dass ich Sie antreffe. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen und ihnen anhand der Bibel belegen, dass Gott Sie liebt.“
Ich bin noch nicht ausreichend wach für philosophische Gespräche dieser Art am Morgen. Frau Knapp aber schon. Seit ich morgens Tee trinke und erst am Nachmittag auf Espresso umsteige, hat sich mein Tagesrhythmus gravierend verändert. Ich muss mich erst mal sammeln.
„Grundsätzlich bin ich Liebe am Morgen gegenüber sehr aufgeschlossen. Und ich freue mich, dass ein Gott mich liebt. Allerdings ist mir die Liebe meiner Freundin und meiner Familie wichtiger.“
Frau Knapp nimmt den Ball direkt auf.
„Freuen Sie sich, dass Sie so viel Liebe empfangen! Die Liebe ihrer Liebsten ist natürlich sehr wichtig und ganz wunderbar. Diese Liebe ist auch in Gottes Liebe enthalten, die sie jeden Tag über Gottes Kinder empfangen.“
Sie strahlt jetzt bestimmt über das ganze Gesicht über diesen gelungenen Satz. Meine Antwort strahlt etwas weniger.
„Aber ich möchte lieber Liebe von Menschen, äh, empfangen. Menschen, die ich auch liebe.“
„Ja, ich verstehe Sie gut. Es ist die Liebe des Allmächtigen, des einen Gottes die Sie fühlen. Er liebt Sie immer und diese große allumfassende Liebe kommt auch in der Liebe ihrer Mitmenschen zum Ausdruck. “
Ich stelle mir eine Frau mittleren Alters vor, die vor Freude über ihre Tätigkeit strahlt und vor meiner Haustür stehend mit liebreizendem Gesäusel den sofortigen Einlass in meine Wohnung erlangen will.
„Ehrlich gesagt, die Liebe eines Gottes ist für mich, wenn überhaupt, eher sekundär. Wenn ich genauer darüber nachdenke ist diese Art der Liebe abstrakt-peripher. Oder so ähnlich. Verstehen Sie?“
Verdammt, das war zu schwach formuliert. Mein Widerstand ist insgesamt zu schwach und nicht fokussiert. Ich muss mich wappnen gegen die kommenden Sirenengesänge aus der Gegensprechanlage. Sonst erliege ich der Versuchung oder steuere mein Schiff auf Grund. Oder Schlimmeres. Frau Knapp säuselt weiter.
„Ich verstehe Sie sehr gut. Aber nein, diese Liebe Gottes, dieses schöne Gefühl, welches so warm von innen heraus leuchtet, ist doch so konkret und fühlbar. Das ist Gott. Sie wollen doch mehr wissen, ich spüre es.“
Der Flur ist nach wie vor unbeheizt und ich spüre konkret die Kälte. Und eine leichte, aber gut spürbare Beklemmung über so viel liebevolle Zuneigung über die Gegensprechanlage am Morgen. Das ist mir um diese Uhrzeit nicht ganz geheuer.
„Ich weiß nicht, ich spüre das gerade nicht so wie Sie.“
Ich habe eine Gänsehaut. Es ist verdammt kühl hier im Flur.
„Das macht doch nichts. Ich verstehe, es ist noch früh und all diese schönen Gedanken erscheinen Ihnen etwas, wie soll ich es angemessen sagen, verfrüht.“
„Verfrüht ist tatsächlich der richtige und vollkommen angemessene Ausdruck.“
Das führt zu nichts. Es ist kalt im Flur. Ich muss ins Warme und spüre auch gerade keine Liebe. Frau Knapp erahnt dankenswerterweise meine Gedanken und gibt die richtige Vorlage.
„Darf ich Ihnen im persönlichen Gespräch die Bibel und dieses Gefühl der Liebe etwas näher bringen? Es dauert nicht lange und ist natürlich völlig kostenlos. Sie sind doch bestimmt interessiert…“
Jetzt. Jetzt!
„Nein Danke.“
Sofort weiß ich: Das kam zu zittrig rüber. Das reicht nicht um eine tatendurstige Frau Knapp abzuwimmeln. Mir schlottern die Knie und ich will jetzt dringend ins Warme.
„An Ihrer Stimme höre ich doch das immense Interesse. Und Ihre Unsicherheit. Dafür gibt es keinen Grund. Trauen Sie sich „Ja“ zu sagen.“
Die Worte tropfen fast aus dem Hörer. Aber ich werde nicht schwanken. Dafür zittere ich zu stark.
„Es tut mir leid. Ich bin jetzt und hier maximal von jeder Liebe und Wärme entfernt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und viel Erfolg.
Frau Knapp reagiert souverän.
„Gut, wie Sie möchten. Vielen Dank für Ihre Zeit. Ich wünsche ihnen einen schönen Tag.“
„Tschüss.“
Ich begebe mich fluchtartig in die nahe und angenehm warme Küche. Mit zitternden Händen wird der Wasserkocher für einen heißen Tee bestückt. Erst die Wärme, dann die Liebe. Allerdings glaube ich, dass das eine das andere bedingt.
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