„Dein Hemd saß aber vor Weihnachten aber noch deutlich lockerer.“

Laetizia blickt mich etwas spöttisch an. Normalerweise würde ich jetzt schönen Tag noch sagen und gehen. Das tue ich aber nicht, weil mich ihre etwas despektierlich gemeinte Aussage nicht tangiert. Gar nicht. Der Satz ist sozusagen schon auf dem Weg zu mir versandet. Und das sind gerade mal so 80 Zentimeter Abstand zwischen uns.

„Nun, es ist ja schon Samstag, der 29. Dezember 2018. Und seit den Feiertagen ist ja schon etwas Zeit vergangen. Ich kann dir sagen…“

ich beuge mich vor,

„…vor fünf Jahren saß das Hemd noch sehr viel lockerer. Streng genommen gab es dieses Hemd noch gar nicht. Sondern ein anderes, welches schmaler war und aus deutlich weniger Stoff bestand.“

Sie hebt die Augenbrauen. Das finde ich etwas zu theatralisch.

„Aha, und darauf bist du stolz oder wie?“

Ich spüre eine leichte Post-Feiertagsaggression bei ihr. Ich denke kurz über ihre Aussage nach. Ohne den Blick von ihr zu nehmen. Schließlich bin ich nach den sehr erholsamen Feiertagen tiefenentspannt. Sie offenbar nicht. Das kommt bei emanzipierten Frauen mit Hang zu Stimmungsschwankungen beim Anblick von festlich geschmückten Räumen im Hause der Eltern häufiger vor.

„Nein, Stolz ist das falsche Wort. Es ist eher eine Entwicklung. Seit damals habe ich sehr viele interessante Menschen kennengelernt, sehr viele tolle und erkenntnisreiche Bücher gelesen und eben auch viel gutes Essen mit passender Getränkeauswahl genossen. Und da ist ein Hemd, welches sich der Entwicklung anpasst, einfach sinnvoll.“

„Kann es sein, dass du gerade den Status viele Worte, wenig Relevanz angeschaltet hast?“

„Ich wüsste nicht, dass ich eine Statusmeldung abgesetzt habe. Außer der Aussage, dass es mir sehr gut geht, ganz zu Beginn unseres Gespräches. Mir fällt gerade auf, dass du heute einen sehr weiten Pulli trägst. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise sind ja eher diese körperbetonten Klamotten dein Ding.“

Treffer, sie errötet. Ihre rechte Hand geht zur Kaffeetasse. Ich kann ihre Gedanken erraten. Werfen oder nicht? Die Tasse ist noch halb voll. Also eher nicht. Das kann aber noch kommen.

„Schön, dass wir darüber gesprochen haben.“

Sie verschränkt die Arme und blickt missmutig aus dem Fenster. Ich hole eine Packung Taschentücher aus meiner Jackentasche und schiebe die Packung langsam zu ihr rüber.

„Was soll ich damit?“

Sie funkelt mich an.

„Damit kannst du dir den Schaum am Mund abwischen und dann unauffällig das Thema des Gespräches wechseln. Weg von der neu erlangten Körperfülle, hin zu den vielfältigen anderen Freuden des Lebens. Dann kommst du aus der Schmollecke raus und ich steigere im Gegenzug die Relevanz meiner Beiträge.“

Ich grinse sie an. Als Dank wirft sie mir die Packung Taschentücher an den Kopf. Sie versucht es zumindest. Ich lenke das leichte Geschoss im letzten Augenblick auf eine ungefährliche Flugbahn. Mit der Kaffeetasse wäre das etwas gefährlicher geworden.

„Du bist unerträglich wenn du entspannt und gut drauf bist.“

Sie lächelt wieder. Es geht aufwärts.

„Ich stehe dazu. Als ich dich zuletzt in entspannter und lockerer Stimmung erlebt habe, hast du Teile des Buffets auf Claras Geburtstag in Richtung dieser komischen Frau geworfen.“

Sofort ist sie auf hundertachtzig.

„Sie hatte es verdient! Sie war laut, grässlich geschminkt und hat dauernd über ihre angeblich so dämlichen Exfreunde hergezogen. Selber gibt sie nie einen aus, aber auf Partys schlägt sie zu. Das nervt doch, wenn alle am Feiern sind und jemand mit Scheißstimmung alles kaputt macht.“

„Sehe ich auch so.“

Sie kramt nach Zigaretten in den Tiefen ihrer Tasche.

„Was macht ihr Silvester?“

„Nichts Besonderes. Essen gehen, das Feuerwerk am Rhein anschauen und fertig.“

Ihr Zeigefinger sticht in die Luft.

„Und fertig kann bei dir alles Mögliche heißen. Ich gehe mit meinen Mädels auf eine Party. Und dann mal schauen.“

 „Das hört sich nach einem entspannten Jahresausklang an.“

„Ich gebe mir Mühe.“

Vor meinem geistigen Auge sehe ich einige angetrunkene Frauen dämlich kichernd kreuz und quer durch die Kölner Nordstadt wanken, andere Frauen beschimpfen und dabei ungekühlten Sekt aus der Flasche trinken. Unterbrochen nur durch angeregte und lautstarke Gespräche mit Ordnungshütern. Das kennt man ja.

„Hast du Vorsätze fürs neue Jahr?“

„Weniger rauchen und mich öfter entspannen.“

Sie sagt es und entschwindet zur Aufnahme des Lungenbrotes nach draußen. Ich nehme mir nichts vor. Wer weiß, wer er ist, braucht keine Ziele. Habe ich mir sagen lassen.