Wenn ich mich mit interessierten Leserinnen über meine Texte unterhalte, kommt regelmäßig die Anmerkung, ich würde mit einem Thema beginnen und nach ein, zwei Absätzen zu einem völlig anderen Thema wechseln. Abrupt und ohne Vorwarnung. Das wäre fast schon ein Markenzeichen von mir, weil dieser Themenwechsel sehr oft vorkommen würde. Und tatsächlich, wenn ich mir stichprobenartig ein paar ältere Texte ansehe, sind mehr als einmal ein oder sogar mehrere Themenwechsel zu verzeichnen.
Heute musste ich mich etwas zum Schreiben zwingen. Zum einen liegt ein neues Buch über Deep Purple auf meinem Wohnzimmertisch, welches liebend gerne gelesen werden möchte, und zum anderen bin ich noch etwas platt. Eine Erkältung plus paralleler Allergie gegen die Vorboten des Frühlings fordert ihren Tribut. Damit kommen wir zum eigentlichen Kernthema dieses Textes. Nämlich der Aufarbeitung von visuellen und ästhetischen Traumata. Und das kam so:
Vergangene Woche stand ich an einem frostigen Dienstag wartend an einer U-Bahnhaltestelle im Kölner Süden. Außer mir standen noch sechs junge Frauen an der Haltestelle und unterhielten sich lauter als notwendig und Kaugummi kauend miteinander. Soziologen würden diese Gruppe junger Frauen wahrscheinlich als Peer Group bezeichnen. Sie waren ihrer Generation entsprechend uniformiert, allerdings weniger in einer klassischen Uniform wie bei der Polizei oder der Feuerwehr, sondern vielmehr in der aktuellen angesagten Kleidung für junge Frauen in den kritischen und für Erziehungsberechtigte oft sehr anstrengenden Pubertätsjahre. Natürlich begebe ich mich bei Dingen wie Kleidung auf extrem dünnes Eis. Von den aktuellen Trends in der Konsummodegesellschaft habe ich keine Ahnung. Also werde ich eine rein subjektive Beschreibung aus der Sicht eines unwissenden Außenstehenden versuchen.
Also: Diese Gruppe jugendlicher Frauen zeichnet sich durch ein einheitliches Erscheinungsbild aus. Ich beginne knapp oberhalb des Bahnsteiges. Alle Mitglieder der ebenfalls auf die nächste U-Bahn Wartenden tragen weiße Schuhe, sogenannte Sneaker. Drei Paare scheinen brandneu zu sein, die anderen drei Paare zeigen Abnutzungsspuren. Vier von sechs Sneakerpaaren sind mit metallisch schimmernden Applikationen an der Ferse oder der Fußspitze versehen. Eine der Jugendlichen hat diese Applikationen sogar an der Fußspitze und der Ferse ihrer Sneaker, allerdings hat sich die Applikation an der rechten Ferse bereits gelöst, wodurch diese verbogene Metallplatte absteht und bei der nächsten leichten Berührung abfallen dürfte. Niemand trägt Socken, vielleicht aber Füßlinge, aber das kann ich nicht erkennen. Nachfragen, ob Füßlinge getragen werden möchte ich nicht, sonst werde ich als Gebrauchtfüßlingssockenschnüffler abgestempelt.
Alles sechs tragen Blue Jeans in Form der in dieser Altersklasse sehr beliebten Over-Waist Jeans, also Jeans, die bis oberhalb der Hüfte und oft sogar über den Bauchnabel reichen. Die Jeans der Peer Group sind kollektiv hochgekrempelt und geben den Blick auf gut gebräunte und, in zwei von sechs Fällen, auch tätowierte Knöchel frei. Die Tattoos selber überfordern meine Fähigkeiten zum Beschreiben komplexer Muster. Zur ungefähren Orientierung könnte man das Muster, welches ein Winterreifen auf einer verschlammten Landstraße hinterlässt, heranziehen.
Die Over-Waist Jeans sind in fünf von sechs Fällen deutlich zu eng geraten, die darunter liegenden String Tangas werden hierdurch sehr betont, was nicht unbedingt als visueller Reiz angesehen werden kann. Auffällig ist auch die sichtbare Möglichkeit zur Nachvollziehbarkeit des Atemvorganges innerhalb der Gruppenmitglieder. Beim Einatmen bewegt sich der gesamte Unterkörper unterhalb des Bauchnabels nach Außen wodurch der Jeansstoff erheblichen Belastungen ausgesetzt wird. Die Garantieleistung des Herstellers für die Haltbarkeit des Jeansstoffes dürfte nur in Ausnahmefällen erreicht werden. In zwei von sechs Fällen wird die Jeanshose am Hinterteil sehr unvorteilhaft in die Arschritze gesaugt, was beim Betrachter ein deutliches Gefühl des Ekels auslöst und den Wunsch aufkommen lässt, sich angenehmeren Dingen zuzuwenden. Aber Recherche muss sein.
Alle tragen sehr kurz geschnittene Lederjacken, die trotz der niedrigen Temperaturen offen getragen werden. Jede Lederjacke dürfte mit einer hohen zweistelligen Anzahl von Reißverschlüssen versehen sein, was sie hinsichtlich der Funktionalität jede Handwerkerjacke in den Schatten stellen lässt. Optisch und ästhetisch liegt die Handwerkerjacke allerdings uneinholbar vorne, selbst am Ende einer langen Arbeitswoche und vor der 60 Grad Wäsche. Anmerken möchte ich, dass ich Reißverschlüsse generell sehr kritisch betrachte. Bei Winterjacken verhaken sie sich gerne und bei Fahrbahnverengungen funktionieren sie gar nicht.
Alle jungen Damen haben lange schwarze Haare, die mit aufwendigen Konstruktionen zu Frisuren weiterentwickelt werden sollen, was aber nicht in jedem Fall gelingt. Ausnahmslos werden alle verfügbaren Kosmetika zur Grundierung und zur vielfältigen farblichen Gestaltung der Gesichtshaut sehr großzügig und in mehreren Schichten genutzt. Ein knalliges Rot ist die beliebteste Lippenstiftfarbe, dagegen wird ein dunkles Braun zur Überbetonung der Augenbrauen eingesetzt. Durch die intensive farbliche Behandlung mutieren diese zu massiven Balken, welche jedes holzverarbeitende Unternehmen vor große Herausforderungen stellen würden.
Die Wimpern sind durch überlange aufgeklebte Spinnenbeinimitate aus der örtlichen Drogerie oder dem Karnevalsanbieter der Wahl ersetzt worden. Diese künstlichen Wimpern haben eine wichtige Schutzfunktion für die Trägerin derselben. Jeder Wimpernschlag bewirkt einen heftigen Luftzug, der sowohl Maikäfer, fliegende Insekten als auch ausgewachsene Greifvögel auf Beutezug sehr wirkungsvoll vertreibt. In der Natur wäre jedes Beutetier dankbar für solche Wimpern. Im menschlichen Umfeld wirken sie eher überfrachtend und deplatziert. Selbst bei akutem Balzverhalten wäre dies deutlich zu viel des Guten.
An den Fingern der zwölf Hände wurden sogenannte Nuttenschaufeln angebracht. Nuttenschaufeln sind künstliche Fingernägel, deren Länge mindestens die Hälfte der Länge des Unterarmes ausmacht. Farblich sind die Nuttenschaufeln sehr gerne in augenkrebserregenden Farben wie einem zarten Hohlblau, einem kräftigen Einhornpink oder einer wirren Mischung diverser halluzinogener Farben gestaltet. Trotz der künstlichen Fingerbehinderungen können alle sechs in atemberaubend hoher Geschwindigkeit ihre in silberne, weiße oder pinke Schutzhüllen eingepackten Mehrzwecktelefone bedienen, was auch permanent parallel zu den Unterhaltungen über die dumme Antep und die hohlen Fragen beim Physiktest heute Morgen passiert.
Unterhalb der Jacken werden schwarze oder pinke Shirts oder Pullis, da muss ich raten, mit großflächigen Aufdrucken getragen. Die Aufdrucke zeigen Frauen mit großzügiger Sonnenbrille am Strand, den Schriftzug Cool Woman in übergroßen goldenen Lettern oder eine Vielzahl von Nieten, die in einem nicht entzifferbaren Muster angebracht sind.
Eingeklemmt zwischen dem rechten oder linken Arm sind großvolumige schwarze Umhängetaschen, die ebenfalls sinnlos, aber großzügig Verreißverschlusst sind und mit goldenen, aber bereits etwas abgenutzten Schriftzügen der Hersteller aufwarten können. Die Namen kann ich nicht genau erkennen. Ich meine aber, irgendwas mit Michael Whores und Urban Outshitters gelesen zu haben. Sicher bin ich aber nicht, dazu fehlt mir das Hintergrundwissen.
Ach ja, so seltsam es auch klingen mag, ich habe sogar etwas mit diesen Jugendlichen gemeinsam. Ich friere, sogar sehr intensiv. Und dass obwohl ich einen dicken grauen Wintermantel, lange dicke dunkle Kniestrümpfe, Jeans, einen dunkelblauen unifarbenen Pulli und eine Mütze trage, deren Farben ich nicht kenne, weil ich sie immer in einer Tasche des Wintermantels trage und bei niedrigen Temperaturen automatisch der Tasche entnehme und die Mütze auf dem Kopf platziere ohne mich um deren Ausstattungsmerkmale zu kümmern. Dieses Frieren war ein deutlicher Hinweis auf die sich anbahnende Erkältung. Aber ich habe die Zeichen zu spät erkannt und durfte eine Woche lang Ingwertee statt Kaffee trinken. Und ich habe einen Text über etwas geschrieben, von dem ich keine Ahnung habe. Und der mein Markenzeichen enthält.
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