Dezember 2019 in der Kölner Innenstadt, das Thermometer zeigt 11 Grad, die Weihnachtsmärkte sind voller voller werdender Glühweinkonsumenten, die Fußgängerzonen bieten nur noch wenig Platz für neue Fußgänger.

Ein Herr in den Vierzigern quält sich durch das Angebot eines der zahlreichen Dekorationsfachgeschäfte. Er sucht etwas, findet aber nicht was er sucht. So wendet er sich hilfesuchend an eine Verkäuferin, die freudlos versucht, einen weißen Weihnachtsbaum aus Kunststoff mit einem Netz aus LED-Leuchten zu überziehen.

„Guten Tag, wo finde ich denn die geschmackvollen Weihnachtsbaumspitzen?“

Müde Verkäuferin:

„Die sind leider ausverkauft.“

Der Herr, enttäuscht:

„Schade. Haben Sie denn unansehnliche, aber spitze und stabile Weihnachtsbaumspitzen?“

Die Verkäuferin, ehrlich:

„Unansehnliche Weihnachtsbaumspitzen: Da gibt es hier viele, streng genommen alle. Spitze Spitzen: Ein paar wenige, die aber mit Hässlichkeit glänzen. Aber stabile Spitzen: Nein, nichts, nada. Darf ich fragen, wofür bitte brauchen Sie eine Weihnachtsbaumspitze mit diesen interessanten Eigenschaften?“

Der Herr, abwesend wirkend:

„Dann kann ich mich in die Spitze stürzen, wenn es zu viel wird.“

Er blickt sich um, überall sind Menschen die zwanghaft Dekorationselemente aus asiatischer Fertigung begutachten und shoppen, um damit in den heimischen vier Wänden die maximale Heimeligkeit zu erreichen.

Der Herr:

„Natürlich meine ich das nur im übertragenden Sinne. Es wäre auch zu umständlich, erst die Leiter ins Wohnzimmer zu schaffen, diese dann hochzusteigen und mit einem gutgezielten Sprung auf die Spitze des Baumes, naja, wie sie wissen schon.“

Die Verkäuferin nickt. Zwei junge Frauen, beide in zu enge schwarze Hosen gezwängt, notdürftig von schwarzen Kunstlederjacken warmgehalten und optisch durch weiße Sneaker endgültig optisch gleichgeschaltet, gehen vorbei. Die eine junge Frau sagt zu anderen:

„Ey Alter, bist du dumm, ey? Hier gibt es den Leuchtmann nischt.“

Die andere junge Frau:

„Ey, guck disch an, ey. Du leuchtest nicht mal wenn du weiß angezogen bist, Hure.“

Der Herr, nachdenklich die visuellen Zwillinge betrachtend:

„Es gibt in dieser Jahreszeit regelmäßig ein zu viel im Sinne eines Übermaßes an Dekoration und dergleichen optischer Zurschaustellung eines Gefühls, welches eigentlich durch Besinnung auf sich selbst zustande kommen sollte. Das ist verrückt.“

Er wendet sich der Verkäuferin zu.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich kann durchaus mit Frohsinn und Heimeligkeit umgehen. Wenn dieser Übermaß an Frohsinn an einem anderen als meinem aktuellen Aufenthaltsort stattfindet.“

Die Verkäuferin, verständnisvoll:

„Ja, das kenne ich. Das ist so wie Karneval. Wenn ich hier am 24. nachmittags rausgehe, brauche ich erst mal dringend einen Verzicht auf den ganzen Dekorationskram. Da hilft ein langer Spaziergang mit meinem Hund“

Der Mann, interessiert:

„Sagen Sie,  wie gehen sie mit den vielen Kontakten zu diesen vielen gereizten und überspannten Menschen um? Können Sie das einfach ausblenden?“

Die Verkäuferin, freudig darüber, dass sich jemand so für sie interessiert:

„Ich stelle mir vor, dass das alles Menschen sind, die dringend meine Hilfe brauchen. Weil sie sonst wehrlos umherirren würden und dann ist ihr Weihnachtsfest schon gelaufen, bevor es richtig begonnen hat. Und das wäre irgendwie schade.“

Sie denkt kurz nach und ergänzt.

„Die Kundschaft zu Weihnachten hat viele Ähnlichkeiten mit etwas unterentwickelten Kleinkindern, aber mit deutlich mehr finanziellem Spielraum.“

Der Mann, nickend:

„Verstehe. Das ist ein guter Ansatz.“

Die Verkäuferin:

„Lassen Sie doch die Weihnachtsbaumspitze einfach weg. Gönnen Sie dem Baum etwas Freiheit durch Dekoabwesenheit.“

Der Mann, lächelnd:

„Sie haben recht. Hauptsache der Baum verströmt dieses schöne Tannenaroma. Weniger ist mehr. Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage.“

Die Verkäuferin, lächelnd:

„Vielen Dank. Das wünsche ich Ihnen auch.“