Die folgende Geschichte ist völlig frei erfunden, könnte sich aber so in einer beliebigen Kölner U-Bahnlinie abgespielt haben. Und zwar so gegen 5:45 h an einem kühlen Morgen. Auch Personen, die nicht im Rheinland geboren sind oder hier nur temporär ansässig sind oder waren, werden die Jahreszeit erraten.
Ein Pärchen wankt in die U-Bahn und setzt sich mir gegenüber hin. Eine Frau und ein Mann, beide geschätzt in den Dreißigern. Ich kann das nur grob abschätzen, weil beide verkleidet sind. Sie als Sonnenblume kurz nach der Blüte, er als Clochard oder leidenschaftlicher Kölner Dosenpfandsammler. Oder eine Mischung, das ist nicht so eindeutig. Vielleicht ist das ja gar kein Kostüm und ich tue ihm unrecht. Jedenfalls legt sie eine Hand auf seinem Oberschenkel und blickt etwas abwesend auf den Fahrplan an der Decke des Waggons. Vielleicht will sie auch nur einen aufkommenden Würgereiz unterbrechen? Das kann man derzeit öfter beobachten. Am besten mit etwas Abstand. Er blickt aus dem Fenster in die vorbeifliegende Dunkelheit. Beide kämpfen sichtbar mit der Müdigkeit und schweigen ein paar Haltestellen lang. Dann fragt er, ohne seinen Blick von der Dunkelheit zu lassen:
„Gehst du am Samstag wieder als Diskoflittchen?“
Sie wendet ihren Blick abrupt vom Fahrplan, nimmt ihre Hand von seinem Bein, verschränkt die Arme und sieht ihn an. Plötzlich wirkt die eben noch übermüdete Sonnenblume wach und präsent, wenngleich die Blütezeit schon vorbei ist. Sie atmet langsam und, trotz der Fahrgeräusche der Bahn, gut hörbar aus. Aber das ist kein entspannendes Ausatmen, welches man mit In-sich-ruhen oder Achtsamkeit oder einem sonnigen Tag auf der Blumenwiese in Verbindung bringen würde.
„Nein, diesmal nicht. Ich weiß noch nicht, als was ich gehe. Das Kostüm letztes Jahr sollte übrigens keine Diskoflittchen darstellen, sondern eine Diskotänzerin in den Siebzigern. Deshalb die Sterne, Glitzer, Fransen und so.“ Sie schaut ihn forschend an. Er tut so, als ob er gerade die Neuigkeit des Tages gehört hat.
„Ach so! Dann habe ich das ja völlig falsch verstanden.“
Er beginnt zu lachen, erst kichernd, dann glucksend, verschluckt sich dabei und kriegt einen Hustenanfall. Viele Clochards sollen ja Kettenraucher sein. Das bringt das Leben an der frischen Luft so mit sich. Die Sonnenblume klopft ihm ein paarmal zur Erleichterung auf den Rücken. Dem Geräusch nach etwas fester als nötig.
„Danke, ich musste nur gerade an das Video denken, dass du damals am frühen Freitagmorgen auf Fatzebuch reingestellt hast.“ Wieder lacht er glucksend, stoppt aber vor dem nächsten Hustenanfall rechtzeitig ab.
„Und da schreist du die sehr gut gelaunten Besucher dieser Party laut und ernsthaft an: Ihr könnt mich alle mal! Ich bin die größte Diskoschlampe von allen! Du bist der Star in dem Laden, alle lachen und grölen und dann wirfst du ein Glas Bier auf den, der dich filmt und der Film stoppte abrupt.“
Die Sonnenblume sitzt aufrecht und mit verschränkten Armen da. Ihre Nägel kratzen über die Oberfläche ihres Handys. Das gibt bestimmt böse Kratzer. Sie versucht sich offenbar an die damalige Situation zu erinnern.
„Das war eine tolle Fete. Ich weiß zugegebenermaßen nicht mehr jedes Detail, aber es war lustig.“
Er kichert.
„Ja, die anderen reden heute noch gerne davon.“
Sie neigt den Kopf etwas und lächelt ihn sanft an.
„Das kann gut sein. Ich habe den Typen, der gefilmt und den Film später hochgeladen hat, übrigens mit dem Glas getroffen. Und zwar mehrmals. Das ist auf dem Film leider nicht mehr drauf.“
Aha, eine wehrhafte Sonnenblume. Sie fragt den gut gelaunten Clochard:
„Sag mal, was ist eigentlich mit deinem Hundekostüm?“
Er lacht noch mal und blickt sie dann verwirrt wegen des abrupten Themenwechsels an.
„Was soll damit sein? Das liegt doch im Keller, in unserer Karnevalskiste.“
„Nein, wenn liegt es in deiner Karnevalskiste.“
„Quatsch, ich hab doch keine Karnevalskiste. Meine Sachen liegen doch bei deinen in dieser weißen Pappschachtel oben im Regal, im Keller.“
Die Sonnenblume schüttelt den Kopf. Jetzt erst fällt mir auf, dass fast alle der gelben Bestandteile der Blume fehlen. Auch Sonnenblumen tanzen anscheinend so, dass die Fetzen fliegen. Ihre Stimme ist jetzt ganz sanft.
„Ich habe letztes Jahr doch aussortiert, weil du meintest, die Sachen würden angeblich so muffig riechen. Und dein Hundekostüm war nach dem Abend bei Robert und Claudia ziemlich hinüber. Bier und so…“
Der Clochard sieht das ganz anders.
„Ach was. Das habe ich damals gewaschen. Bei 60 Grad. Das Teil kann das ab. Da roch nichts mehr muffig.“
„Doch, doch. Das roch trotz der Wäsche nicht mehr so gut. Eigentlich roch es beschissen. Warte, nein, beschissen stimmt nicht. Hat sich dein bester Kumpel nicht übergeben und deinen Rücken und deinen puscheligen Hundeschwanz vollgereihert? So was geht schlecht raus…“ Sie macht eine sehr effektive Kunstpause
„…und da waren doch noch dieser Lippenstiftspuren von dieser Schlampe aus der Südstadt drauf.“
Er verdreht die Augen.
„Geht das schon wieder los? Da war nichts. Ben war eben schlecht und er hat es nicht mehr auf die Toilette geschafft. Da kommt eben vor, wenn richtig gefeiert wird.“
Er hebt unschuldig die Schultern. Sie nimmt seine Hand, allerdings nicht so liebevoll wie am Anfang. Wahrscheinlich will sie verhindern, dass er flieht.
„Wie schön, dass du wieder das Wesentliche weglässt. Die Lippenstiftspuren waren alle rund um den Mund. Also ich meine die Schnauze. Und weißt du was?“
„Was denn?“
„Im Schritt roch es nach Parfüm.“
„Was? Sag mal hast du das Teil ins Labor geschickt oder was? So ein Quatsch. Im Schritt roch es bestimmt nach allem, aber nicht nach Parfüm.“
Er ist gleichzeitig empört und verunsichert, verschränkt jetzt auch die Arme und blickt mürrisch durch das Fenster auf der anderen Seite des dunklen Tunnels. Drei Frauen, offenbar Mitarbeiterinnen einer Reinigungsfirma, die am Fenster gegenüber sitzen, schauen interessiert rüber. Sie unterhalten sich tuschelnd, eine macht eine Handbewegung, die stark nach einer Ohrfeige aussieht. Sie kichern. Die Sonnenblume hat jetzt etwas strenges, Fräulein Rottenmeier-haftes an sich…
„Doch, doch, das ist mir am nächsten Tag gleich aufgefallen. Dieser süßliche Geruch, so was passt doch gar nicht zu dir. Du bist doch mehr der herb-männliche Typ. Oder passt so ein süßlicher Duft etwa doch besser zu dir? Habe ich mich da getäuscht?“
Ich finde ja, süßliche Düfte passen nicht zu Pennern. Auf der anderen Seite ist ein süßlicher Duft doch deutlich besser auszuhalten als der Gestank von Bier, Zigaretten und Urin. Die gerupfte Sonnenblume rückt ihren Kopf etwas näher an den mit aufgemaltem Bart und einem abgewetzten Hut ausstaffierten Kopf des Penners heran und wiederholt ihre Frage. Diesmal etwas lauter.
„HABE ICH MICH DA GETÄUSCHT?“
Der Penner, der sich Sorgen um sein Hundekostüm macht, ist jetzt deutlich in der Defensive.
„Boah, wir haben das doch geklärt. Da war nichts! Was ist jetzt mit dem Kostüm? Sag nur du hast es weggeschmissen? Das hat fast einen Hunderter gekostet.“
Sie streichelt ihm sanft mit dem Handrücken über die Backe.
„Nein, nein keine Angst mein Schatz.“
Sie lächelt ihn an, er blickt verunsichert zurück.
„Weißt du, der Geruch, gerade im Schritt war so unangenehm, dass ich Angst hatte der Mief könnte auf unsere anderen Kostüme überspringen.“ Sie lächelt kalt.
„Deshalb habe ich die muffigen Stellen rausgeschnitten…“ Er blickt entsetzt und hält die Luft an.
„… und die Löcher habe ich mit den Resten von Carlas zerrissenem pinken Hasenkostüm wieder gestopft. Das Hundilein ist jetzt braun mit ein paar pinken Stellen. Ist das nicht schön?“
Der Clochard lässt die Schultern hängen. Das ist wohl als Kapitulation zu verstehen.
„Schatz, können wir den Tag nicht etwas friedlicher beginnen?“
Der Clochard sieht seine gerupfte, aber sehr bestimmend agierende Sonnenblume flehend an. Wird sein Flehen zu ihr durchdringen? Nein, die Sonnenblume demonstriert Härte.
„Du hast Recht. Ich ziehe mich auf meine Wiese zurück und du kannst gerne noch um die Häuser ziehen.“ Der Clochard ist entsetzt.
„Was? Es ist früher Morgen! Ich bin platt und will schlafen.“
Die Bahn hält quietschend. Die Sonnenblume springt auf und verlässt eiligen Schrittes den Wagen, gefolgt von einem gebückt schlurfenden Clochard. Die Beiden lassen einen strengen Geruch nach abgestandenem Bier und Zigarettenrauch zurück. Süßlich riecht da gar nichts, aber genauso wenig ist ein blumiger Duft zu erschnuppern.
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