Das Wasser strömt angenehm temperiert durch den Kopf. Es rauscht so laut, dass der Eindruck eines Gebirgsbaches entsteht. Es würde mich nicht wundern, wenn gleich ein Lachs entspannt vorbeischwimmt, der von einem vor Vorfreude brummenden Bär verfolgt wird. Dieses spülen oder ausspülen soll man ja alle sechs Monate machen lassen. Ich könnte mich gut daran gewöhnen. Da fühlt man sich mehr als Hedonist anstatt als Patient. Werde ihn gleich mal fragen.

»Drücken Sie die Schale mal etwas fester an den Kopf, sonst läuft ihnen das Wasser in den Pullover«, sagt er.

Ich drücke die halbkreisförmige Schale etwas fester gegen mein Ohr, leider etwas zu spät, sofort merke ich, wie sich ein kleines Rinnsal vom Ohr abwärts den Weg über die Schulter und Brust nach unten sucht. Wasser sucht sich seinen Weg und dieses Wasser, was sich im Ohr vor wenigen Sekunden noch so angenehm anfühlte, entfaltet weiter unten die Wirkung von gut gekühltem Gebirgswasser. Mir läuft es kalt den Rücken runter und ich muss mich schütteln. Der Ohrenarzt grinst.

»Es ist keine große Sache: Der Gehörgang ist entzündet. Auf einer Skala von eins bis zehn liegt die Entzündung in ihrem Ohr bei 1,8.«

Das ist doch mal präzise ausgedrückt. Mein Ohr wird von einer Entzündung der Stärke 1,8 auf einer Skala von eins bis zehn geplagt. Immerhin haben diese 1,8 gereicht, mein Ohr mehrere Tage lang von einem gut spürbaren Ring aus Schmerz zu umzingeln.

»Drehen Sie bitte mal den Kopf nach links.«

Ich drehe den Kopf und spüre wie ein dünner, länglicher, sich nach Metall anfühlender Gegenstand in meinem Gehörgang eingeführt wird und sich dort hin- und herbewegt. Es soll ja Menschen geben, die mit dem Einführen und hin- und herbewegen von, irrtümlich, Ohrenreinigungsstäbchen genannt, in den  Ohren ihr Liebesleben in bisher unbekannte, sphärische Höhen  treiben, aber das kann ich gerade so gar nicht nachvollziehen. Metall im Ohr ist eher abtörnend und kann als Gegenteil des Ohrenspülens verstanden werden. Kommen die Begriffe an- und abtörnen eigentlich vom Segeln oder vom englischen to turn?

»Das Ohr ist jetzt frei. Sie werden spätestens morgen eine deutliche Verbesserung ihres Befindens spüren.«

»Dankeschön.«

Der behandelnde Ohrenarzt, der sich mit der Zusatzbegabung Chirurgie plus Botox und Filler-Behandlung schmückt, sieht, ja wie sieht er aus? Auffällig, interessant, verhuscht? Er trägt eine kleine rote und sehr eckige Brille, dazu einen schwarzen Haarkranz, der sich durch die jetzt schon mehrere Wochen andauernde Schließung der Friseure ungebremst in alle Richtungen ausbreiten konnte. Der Arzt könnte problemlos in der Sesamstraße mitspielen und würde optisch dort nicht weiter auffallen.

Er nimmt das Vorderteil des Gehörgangerkundungsgerätes ab und wirft es in einen Behälter, damit es später gereinigt und in anderen schadhaften Ohren wiederverwendet werden kann. Er wechselt vom Behandlungsstuhl an seinen Schreibtisch und schreibt am PC los.

»Lassen Sie sich vorne einen Termin für einen Hörtest geben. Den wiederholen wir in zehn Jahren und dann ist schon absehbar, ob Sie im Alter Hörbeschwerden haben werden. Und wenn das so ist, können wir was dagegen tun.«

»Gut.«

Er nickt, ich auch. Übereinstimmung. Bei seinem Nicken nicken die langen Haarkranzhaare zeitverzögert sanft hinterher. Sowas wird an anderer Stelle als eine von bestimmt vielen als Voraussetzung für einen Nobelpreis begriffen.

»Alles Gute, bleiben Sie gesund.«

»Sie auch. Tschüss.«

Draußen auf der Straße merke ich die Wirkung der Behandlung. Wo vorher der Schmerz im Vordergrund stand, ist jetzt wieder der großstädtische Straßenlärm präsent. Das Ohr ist wieder frei, der Druck ist weg. Den Schmerz kann ich nur noch erahnen. Aber ich habe vergessen nach dem Spülrhythmus zu fragen. Das hole ich telefonisch nach. Vorher sollte ich mir besser eine neutrale Formulierung überlegen, sonst wird mein Ansinnen aus völlig falschen Gründen missverstanden und die Ohren verdichten sich innerlich bis zur Schwerhörigkeit. Aber Wasser sucht sich seinen Weg.