Die Putzfrau steht etwa fünf Zentimeter von meiner Nasenspitze entfernt. Sie kündigt an, gleich durchzuwischen. Feucht durchzuwischen. Slippery when wet, wie das Neudeutsch heißt. Ich blicke in ihre großen Augen und murmele halblaut, dass das in Ordnung sei. Und ich ihr ihren Lohn direkt danach zukommen lasse. Natürlich hört sie es nicht, weil schon der nächste kölsche Schunkelsong lautstark anläuft und das Publikum in dem kleinen, zum Bersten gefüllten Raum zum Mitsingen animiert. Und wie die Menge singt. Ich bin der Einzige in diesem Raum, der den Text nicht auswendig kennt. Das ist keine Überraschung.
Es ist Rosenmontag und ich wurde heute Morgen überredet, mich weiß im Gesicht und rot um den Mund herum schminken zu lassen und dann das feiernde Volk als Blutsauger zu bereichern. Ich, der ich mich immer in Zurückhaltung und Demut geübt habe, wenn Feierlichkeiten, besonders rheinische Feierlichkeiten, anstanden. Die weiße Schminke fühlt sich ähnlich unangenehm an wie fettige Sonnencreme. Ich wage kaum mich irgendwo im Gesicht zu kratzen oder auch nur zu berühren. Weil mein Kostüm sonst völlig unglaubwürdig wird. Vorhin wurde ich von einer Sünderin gefragt, ob ich ihr die Beichte abnehmen könnte. Meine Antwort: „Meine Tochter, das lohnt sich doch erst ab kommenden Mittwoch.“ Dann segnete ich ihr Kölsch und sie ging strahlend von dannen. Heute muss ich mehrere Rollen ausfüllen.
Als Vampir im Ledermantel sind mir heiße Räume zunächst einmal nicht geheuer. Ich transpiriere und der Mantel muss runter. Dann krempele ich die Ärmel des schwarzen Hemdes hoch und nutze die Vorteile meine Körpergröße zur Begutachtung meines Umfeldes. Schieben, drängeln, tanzen, knutschen, schwitzen, saufen, feiern. Hier ist alles im grünen Bereich. Und der grüne Bereich ist sehr umfangreich. Wenn auch etwas beengt.
Die Putzfrau tanzt begeistert zur Musik. Die wischt bestimmt ziemlich flott durch, wenn sie mal richtig in Fahrt kommt. Hinter ihr haben ein Gärtner und ein Mexikaner intensiven Augenkontakt. Der Mexikaner trägt einen Poncho, einen Sombrero, eine dunkle Sonnenbrille und einen Bart. Ein Mexikaner eben. Mit einer Flasche Kölsch in der Hand. Er wirkt sehr routiniert beim Kölschflaschenhalten. Bestimmt hat er seit seiner Geburt eine Flasche Kölsch in der Hand. Oder die Vorgänger. Also erst die Kölsch-Nuckelflaschen-Edition, dann ein 0,2 Kölsch-Glas und seit der Pubertät eine richtige Flasche Kölsch. Sein Körper schwankt sanft, aber etwas asynchron zur Musik hin und her. Die Augen des Gärtners folgen ihm mit einem entspannten Blick aus glasigen Augen. Der Gärtner trägt einen Strohhut, Blumen und ebenfalls Bart. Er lächelt. Der Mexikaner lächelt schwankend zurück. Der etwas verlangsamte Bewegungsablauf dieser Jungs wirkt wie ein Film, den ein Marihuana-abhängiger Regisseur in stark verlangsamtem Tempo abgedreht hat. Mit kölschem Soundtrack. Strange but beautiful.
Unter diesen Bedingungen ist die Kontaktaufnahme zu attraktiven Mitmenschen leicht. Sofern man am Türsteher vorbei ist und sich mit Nachdruck einen Stehplatz erdrängelt hat. Apropos Kontaktaufnahme. Ich habe mindestens zwei Hände in der rechten hinteren Tasche meiner Hose. So fühlt es sich also an begehrt zu sein. Ich bin aber kein Star und will nicht in den Dschungel. Ich vertrage weder Hitze noch hohles Gelaber. Ich bin ein Vampir.
Es ist schwierig die genaue Anzahl Hände festzustellen. Weil sich die Hände bewegen und offenbar hin und wieder eine Hand durch eine andere ersetzt wird. Links ist es derzeit nur eine Hand. Die verharrt still. Ich tippe auf den Cowboy links neben mir als Hand-Halter. Er hat sich richtig rausgeputzt für diesen Kölschen Feiertag: Hut, Gürtel, Weste, Knarre – alles in Pink. Er nuckelt auffällig an seinem Bierbecher rum und grinst mich dabei lüstern an. Im aktuellen Lied geht es um einen Marterpfahl und er ist Textsicher. Die Sau. Aber halt: Sein rechter Arm ruht ja schon auf meinen Schultern. Und mit der linken Hand hält er den Becher. Also ist er unschuldig. Ok, dann tippe ich auf den Police-Officer halbrechts. Aber der hat beide Hände hinter dem Rücken verschränkt und bearbeitet den Gefangenen hinter ihm im Takt der Musik. Rhythmische Polizei-Gymnastik also. Heute sind die Hände los.
Die geforderte Armlänge Abstand zum nächsten Mitbürger ist hier schwer einzuhalten. Natürlich könnte ich mich in eine Fledermaus verwandeln und etwas rumfliegen, aber dann bin ich wegen der großen Ohren noch empfindlicher für laute Musik. Außerdem ist fliegen unter Alkohol- oder Medikamenteneinfluss und Karnevalsbeschallung nicht statthaft. Sagen die Statuten des Vampir-Kodex in der aktuellen Fassung.
Vor ein paar Monaten hatte ich eine ähnliche Situation. Mit meinem Kumpel Klaus zog ich durch Kölner Kneipen. Kurz zuvor hatte ich einen Besuch bei einem Kieferchirurgen überstanden und genoss das gute Gefühl medikamentös in Watte gepackt worden zu sein. Nach zwei Kölsch war aber schon wieder Schluss mit lustig. Das Ende des Abends und meiner Belastbarkeit kam plötzlich, als die Insassen der vollbesetzten Kneipe den Schlager „Die Fischerin vom Bodensee“ freudig und lautstark mitsangen. Die Mauer aus Watte wurde abrupt niedergerissen und legte den Nerv des behandelten Zahnes frei. Ich entfloh entsetzt den Netzen der Fischerin.
Dieses Mal ist es einfacher. Ich bin fit, verkleidet und sauge die hitzigen Eindrücke um mich herum wie ein Schwamm auf. Und werde dabei bekloppt. Es gibt nur einen Ausweg: Ich muss diesem Wahnsinn um mich herum etwas entgegensetzen. Windschnittig und kräfteschonend gegen den Strom schwimmen. Singen, ich werde singen. Bis ich umkippe. Das dürfte klappen. Ich schließe die Augen, hole Luft und beginne, den einzigen mir auswendig bekannten Schlagerliedtextausschnitt zu singen. Beziehungsweise hinauszuschreien:
Ein Mensch
der dieses Lied erträgt
der weint
wenn man ihn schlägt
ja dieser Mensch
ist hier heut´ NachtEin Mensch…
Unzählige Wiederholungen später gibt mir die Putzfrau plötzlich einen dicken Knutscher und lacht mich dann fröhlich an. Überrascht über diese Annäherung und aus Gewohnheit schnappe nach ihrem Hals. Sie wehrt den Angriff lässig ab, umarmt mich, blickt mir tief in die Augen und sagt: „Vorsicht Dracula, keine Knutschflecken. Sonst schicke ich die Helene Fischer Ultras bei dir vorbei. Und dann gibt es richtig böse Farbenspiele.“
Meine Beißzähne werden sofort stumpf. Kurz überlege ich meine Optionen. Der Gedanke, dass eine Horde fanatischer Blondinen meine Gruft verwüstet und dabei grässliche Schlager singt ist nicht sehr verlockend. Böse Farbenspiele hört sich bechtig Möse an. Ich meine mächtig Böse. Verdammter Alkohol. Vielleicht sollte ich doch nach Transsylvanien umziehen. Oder zumindest nach Sülz. Da soll es ja auch fließendes Wasser geben. Es ist schwierig im Kölner Karneval eine rationale Entscheidung zu treffen. Rational und Karneval ist sowieso ein Widerspruch in sich. Ich höre mich sagen:
„Okay, du darfst feucht durchwischen. Aber schön geschmeidig. Und nur mit Lohnsteuerkarte.“
Sie nickt. Und grinst mich frech an. Ich grinse zurück. Meine Zähne werden sofort wieder scharf. Happa Happa für den Papa.
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